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Altherren-Karussell

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Auf der Gerüchtebörse der Kreml-Astrologen ist das Thema ein Dauerbrenner: Wer und was folgt dem jetzigen Staats- und Parteichef Leonid Breschnew? Und es darf nicht verwundern, daß parallel zur Verschlechterung des Gesundheitszustandes von Breschnew das Nachfol-ge-Spekulations-Spiel in den westlichen Massenmedien immer mehr Platz einnimmt.

Auch wenn die Fernsehberichte vom Wiener Gipfeltreffen dem Betrachter einen relativ rüstigen Breschnew präsentieren, konnten sie doch nicht verschleiern, daß der sowjetische Spitzenpolitiker physisch in den letzten Jahren stark gealtert ist. Daß damit eine Reihe schwerer Krankheiten zusammenhängt, ist der Schluß, den man daraus durchaus ziehen kann: Sein trippelnder Gang, seine schwerfälligen Bewegungen und seine Mühe beim Sprechen waren die äußeren Anzeichen dafür.

Auch wenn von sowjetischer Seite der Mantel des Schweigens über die Breschnew-Nachfolge gebreitet wird, auch wenn durch Treffen wie das in Wien der Weltöffentlichkeit suggeriert werden soll, daß mit Leonid Breschnew noch lange zu rechnen sei, ist die Nachfolgefrage aktueller denn je.

Freilich muß sie für den westlichen Beobachter immer spekulativ sein, denn es mangelt in der Geschichte der Sowjetunion an Präzedenzfällen, die zur Bewertung des Nachfolgeprozesses herangezogen werden könnten. Außerdem ist westlichen Kreml-Experten der Blick in die inneren Abläufe der Meinungsbüdung im Politbüro so gut wie unmöglich.

Eines scheint aber gewiß: Der Nachfolger Leonid Breschnews kommt sicher aus dem inneren Führungskreis, des sowjetischen Staatsund Parteisystems. Dafür sorgt schon allein der bürokratische Immobilismus des Sowjetsystems, der sich in der überalterten Führungsmannschaft manifestiert. Diese Po-litgreise versperren den unteren und mittleren Kadern den Weg an die Spitze und werden auch in der Nachfolgefrage dafür Sorge tragen, daß einer der ihren zum ersten Mann im Staate wird - ein Macht-Karussell der „alten Herren“.

Um in den inneren Führungskreis der Sowjetunion zu gelangen und damit für die Breschnew-Nachfolge überhaupt in Frage zu kommen, scheinen bestimmte Kriterien von größter Wichtigkeit. Zu diesen Erfordernissen zählen:

• Praktische Erfahrungen in der Führung über wichtige Bereiche der sowjetischen Bürokratie, also etwa als erster Sekretär in einer Unionsrepublik oder einer Großstadt.

• Diensterfahrungen in der Zentrale; ein signifikanter Posten in Moskau zählt zu den Grundvoraussetzungen für eine Spitzenkarriere.

• Erfahrungen in Industrie und Landwirtschaft, weil das Verstehen der Funktionsabläufe in diesen Bereichen für einen sowjetischen Spitzenpolitiker unbedingt notwendig ist.

• Außerdem muß ein Nachfolgekandidat dem Politbüro angehören, möglichst als Vollmitglied.

Tastet man den Kreis des dreizehnköpfigen Politbüros nach diesen Kriterien ab, reduziert sich der Kreis der potentiellen Nachfolgekandidaten auf ein paar wenige Namen. Häufig genannt wird von den westlichen Kreml-Astrologen der ZK-Sekretär für Parteiorganisation und Industrie, Andrej Kirilenko (72). Er ist drei Monate älter als Breschnew, jedoch bei besserer Gesundheit. Kirilenko scheint vor allem im Falle eines raschen Todes von Breschnew in Frage zu kommen, wenn auch nur als provisorischer Nachlaßverwalter,

Chancen werden auch den Politbüromitgliedern Wladimir Schtscher-bitzkij (61), Parteisekretär der Ukraine, und Grigorij Romanow (56), erster Sekretär der Leningrader Region und jüngstes Mitglied des Politbüros, eingeräumt. Doch Schtscherbitzkijs ukrainische Abstammung und die Tatsache, daß beide noch keine Schlüsselposition in Moskau innehatten, schmälern ihre Aussichten auf die Breschnew-Nachfolge.

KGB-Chef Yuri Andropov (65) wird auf der Gerüchtebörse ebenfalls als heißer Tip gehandelt. Der Geheimdienst-Chef steht mit Breschnew persönlich und beruflich in einem Naheverhältnis und weist neben den bereits angeführten Erfordernissen noch zusätzlich außenpolitische Erfahrungen auf. Reduziert werden seine Aussichten durch das Mißtrauen und die Angst vor einem übermächtigen KGB-Mann, den seine Ernennung als Breschnew-Nachfolger in weiten Bereichen der Partei hervorrufen müßten.

Michael Suslov (76), Chefideologe der KP, und Dimitrij Ustinov (70), Verteidigungsminister, können aufgrund ihres Alters wohl kaum als potentielle Nachfolger auf lange Sicht angesehen werden. Diesen beiden fällt aber im wesentlichen die Funktion als Königsmacher des zukünftigen Staats- und Parteichefs zu. Auch Premier Alexej Kossygin (75) scheint zu alt als Nachfolger.

Dafür wurde die Anwesenheit Konstantin Tschernenkos (67) beim Wiener Gipfeltreffen als Indiz dafür gewertet, daß nun doch ein Kronprinz für Breschnew aufgebaut wird. Doch der Agitations- und Propagandachef beim Zentralkomitee der KPdSU scheint nur deshalb den Sprung ins Politbüro geschafft zu haben, weil er ein bedingungsloser Gefolgsmann Leonid Breschnews ist. Sowjetische Stellen schätzen seine Chancen als gering ein.

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