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Neue Offensive gegen die Dissidentenbewegung

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Laut Gerüchten, die in den Westen gedrungen sind, haben das Politbüro des Zentralkomitees der KPdSU und der KGB beschlossen, der Dissidentenbewegung innerhalb der Sowjetgesellschaft bis zu den Olympischen Spielen, also bis 1980, ein Ende zu bereiten.

Es ist leicht zu verstehen, warum die Sowjetbehörden die Andersdenkenden ausgerechnet bis zu diesem Zeitpunkt aus dem Weg räumen wollen: Erstens wird es bei den heutigen Verhältnissen selbst für die Sowjetbürger möglich sein, durch die Olympischen Spiele an eine Menge von Informationen heranzukommen, die ihnen sonst nicht zugänglich sind. Zweitens wird es trotz des Einsatzes einer gigantischen Zahl von KGB-und Milizleuten schwer sein, alle Begegnungen zwischen Sowjetbürgern und Ausländern kontrollieren oder sie in „offizielle sportliche Kanäle“ leiten zu können. Die Behörden werden alles daransetzen, um einen lebendigen Meinungsaustausch zwischen Sowjetbürgern und Ausländern zu verhindern. Denn er würde die Möglichkeit bieten, einander zu überzeugen.

In der Sowjetpresse von irgendwelchen der Phantasie entsprungenen amerikanischen oder französischen kapitalistischen Haien zu lesen, ist eines. Etwas ganz anderes ist es, einem lebendigen Menschen gegenüberzusitzen. Ich erinnere mich an den gewaltigen Eindruck, den 1957 das internationale Studentenfestival in Moskau auf die Jugend machte, als zusammen mit den ausländischen Teilnehmern auch neue Bücher und die abstrakte Malerei nach Moskau gelangten und Kontakte zustande kamen, die vorher unmöglich gewesen wären. Und wenn man weiß, wie tief die Veränderungen sind, die sich seit 1957 in der Sowjetgesellschaft ereignet haben, so gibt es überhaupt keinen Zweifel darüber, daß die Gelegenheit, Informationen zu erhalten, jetzt noch wesentlich reichere Früchte tragen wird.

Natürlich wissen das die Behörden. Daher bereiten sie sich schon zwei Jahre vor den Olympischen Spielen

darauf vor, die Gelegenheit zu solchen Begegnungen zu unterbinden. Sie haben die Absicht, vor allem jene Schicht von Menschen zu treffen, die am meisten wissen, für Informationen offen sind und bestimmte demokratische oder religiöse Positionen bezogen haben. Die eben stattgefundenen politischen Prozesse gegen Ginsburg, Schtscharansky und Pjat-kus, die verstärkten Repressionen gegen Andersdenkende stehen, wie mir scheint, mit dieser „Vorbereitung“ in Zusammenhang. Die Besonderheit dieser Offensive besteht darin, daß ihr Stoß in zwei Richtungen geht.

Die Sowjetbehörden werden alles daransetzen, um einen lebendigen Meinungsaustausch zwischen Sowjetbürgern und Ausländern kontrollieren oder in „offizielle sportliche Kanäle“ leiten zu können

Die erste Richtung ist die in allen totalitären Staaten gebräuchliche -mit jenem Spektrum von Terrormethoden, die er stets angewandt hat und weiter anwenden wird, unabhängig von Olympischen Spielen. Es sind gerichtliche und „außergerichtliche“ Verfolgungen, Provokationen, falsche Beschuldigungen, psychiatrische Kliniken, Konzentrationslager und schließlich Morde.

Die zweite ist die gewaltsame Nötigung zur Emigration oder Ausreise aus der Sowjetunion, manchmal sogar mit einem sowjetischen Paß, obwohl diesen Dissidenten in der Regel nach einer gewissen Zeit die sowjetische Staatsbürgerschaft aberkannt wird - „auf Grund von Handlungen, die mit der Bezeichnung Sowjetbürger unvereinbar“ sind, wie dies gerade mit dem bekannten sowjetischen Schriftsteller und Philosophen Alexander Sinowjew geschah.

Diese zweite Variante des Kampfes

gegen die Andersdenkenden wird im Westen von manchen Kreisen als Anzeichen eines gewissen Liberalismus innerhalb des Sowjetsystems interpretiert. Dies scheint mir nicht richtig zu sein.

Wenn in einem totalitären Staat totaler Terror herrscht, kann sich kein einziger seiner Bürger vollkommen sicher fühlen, nicht einmal der Diktator selbst und die höchsten Schichten des Machtapparates. Da mit Chruschtschow zusammen eine Gruppe von Leuten an die Macht kam, die in der einen oder anderen Form den Stalinschen Terror miterlebt hatten, brauchte dieses neue Milieu für sich und seine Angehörigen eine gewisse Rückversicherung und mußte daher den Terror begrenzen. Er hörte auf, total zu sein und wirkt sich jetzt nur mehr in einer bestimmten Richtung aus - wenn auch die Möglichkeit der Rückkehr des totalen Terrors nie verschwunden ist.

Für die Begrenzung des Terrors -das heißt im Grunde für die eigene persönliche Sicherheit - mußte eine Gegenleistung in Form von Maßnahmen erbracht werden, die dem westlichen Menschen als „liberal“ erscheinen könnten. In Wirklichkeit sind sie das aber nicht, sie sind kein Beweis für das Vorhandensein von echten liberalen Tendenzen, sondern für die Schwäche des totalitären Staates, der sich nicht dazu entschließt, im Kampf gegen die Dissidenten seine altbewährte Methode, den totalen Terror, einzusetzen, weil er im Gedächtnis behalten hat, daß das für die eigene Haut gefährlich werden könnte.

Daraus ergeben sich die paradoxen Formen des Kampfes gegen die Andersdenkenden: ein Teil wird eingesperrt, ein anderer über die Grenze expediert. Dieser paradoxe Zustand Spiegelt die allgemeine Verschwommenheit des augenblicklichen Interregnums in der UdSSR, in dem die Ära nach Breschnew vorbereitet wird und im Politbüro anscheinend ein augenblicklich noch nicht sichtbarer Kampf um die Macht tobt.

(Aus dem Russischen übersetzt von Maria Razumovsky.)

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