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Rücken frei -für Europa?

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Breschnew in Westdeutschland: Tage, in denen man anstößige Wörter wie „Irrenhaus“ oder „Pressefreiheit“ in Bonn peinlich vermied, Tage, in denen Deutschlands Spitzenpolitiker Begriffe, mit denen sie sonst so vertraut umgehen, aus dem Sprachschatz zu streichen hatten; wenn Diktatoren reisen, wird der selbstverständliche Takt, auf den ein Gast Anspruch hat, zur Pflichtübung in Heuchelei. Der erste sowjetische Partei- und Regierungschef, der seinen Fuß auf den Boden der Bundesrepublik Deutschland setzte, ist zwar kein Stalin, er läßt seine Gegner nicht in den Kellern der Geheimpolizei durch Genickschuß liquidieren, dafür aber Gesunde in Irrenhäusern dahindämmern — kann man einem solchen Mann den roten Teppich zum Flugzeug rollen, kann man ihm die Hand drücken, kann man mit ihm „unter vier Augen“ Konversation machen, ohne sich die leiseste Anspielung darauf zu gestatten, was er mit Menschen macht, die, politisch links oder, rechts von ihm stehend, es wagen, nicht nur eine andere Meinung zu haben als er, sondern diese auch kundzutun?

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Breschnew in Westdeutschland: Tage, in denen man anstößige Wörter wie „Irrenhaus“ oder „Pressefreiheit“ in Bonn peinlich vermied, Tage, in denen Deutschlands Spitzenpolitiker Begriffe, mit denen sie sonst so vertraut umgehen, aus dem Sprachschatz zu streichen hatten; wenn Diktatoren reisen, wird der selbstverständliche Takt, auf den ein Gast Anspruch hat, zur Pflichtübung in Heuchelei. Der erste sowjetische Partei- und Regierungschef, der seinen Fuß auf den Boden der Bundesrepublik Deutschland setzte, ist zwar kein Stalin, er läßt seine Gegner nicht in den Kellern der Geheimpolizei durch Genickschuß liquidieren, dafür aber Gesunde in Irrenhäusern dahindämmern — kann man einem solchen Mann den roten Teppich zum Flugzeug rollen, kann man ihm die Hand drücken, kann man mit ihm „unter vier Augen“ Konversation machen, ohne sich die leiseste Anspielung darauf zu gestatten, was er mit Menschen macht, die, politisch links oder, rechts von ihm stehend, es wagen, nicht nur eine andere Meinung zu haben als er, sondern diese auch kundzutun?

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Es war nicht auf Gleichgültigkeit, sondern auf Resignation, auf das Wissen von der Unabänderlichkeit dieser Tatbestände zurückzuführen, wenn selbst die schärfsten Kritiker dieses Staatsbesuches humanitäre Kritik am Gast links, liegen ließen und nur von Politik sprachen, wie P. W. Wenger im „Rheinischen Merkur“, der anmerkt, daß Breschnew „im selben, leicht bewachbaren Hotel logiert, von dem aus der britische Premier Neville Chamberlain jenes Abkommen mit Hitler einleitete, das jetzt — viereinhalb Jahre nach seinem eigenen Einmarsch in Prag — als nichtig liquidiert werden soll, während das einzige Abkommen, das bis zur Stunde gigantische Gebietsveränderungen bewirkt — der Geheimpakt zwischen Ribbentrop und Molo-tow zur Teilung Polens i vom' 23. August 1939 — durch die Bonner.

Ostverträge einen deutschen Konsens erhalten hat, von dem selbst Chruschtschow nicht zu träumen wagte.“ s '

Aber ob die Kritik an der Aussöhnung zwischen Westdeutschland und der Sowjetunion nun auf die Humanität oder auf politische Argumente baut — es steht zu befürchten, daß sie von einem realistischen Standpunkt aus bereits überholt war, als die Aussöhnung noch nicht Realität war. Denn zwischen Brandt und Breschnew stand ebenso wie mit der DDR kein auf Liebe, aber ein auf das harte Diktat der Wirklichkeit gegründeter, sicher unvollkommener und stets gefährdeter modus vivendi zur Diskussion.

Sicher hat die „Neue Zürcher Zeitung“ recht, wenn sie registriert, daß „Moskau hier zuerst ein Hindernis konstruierte und es dann mit einer

großzügigen Geste beseitigte“ und und wenn sie voraussieht, daß dies der eigentliche Kniff sowjetischer Deutschlandpolitik, die sich ja weiter im Besitz des Faustpfandes Berlin weiß, bleiben wird — übersehen wird dabei zu oft, daß weiteres Warten und weiteres Zurückhalten der deutschen Trümpfe (so klein oder groß sie waren) daran nichts geändert hätte. Dieses Warten hat schließlich bereits Jahrzehnte gedauert.

Für Deutschland, vielmehr für Europa, geht es heute um anderes, Größeres, Wichtigeres, um nicht mehr und nicht weniger als um das Überleben als weltpolitischer Faktor — wenn auch nur noch als einer unter vieren. Zwei der drei großen weltpolitischen Schlüsselflguren von heute (Nixon, Breschnew, Mao), nämlich die beiden ersteren, sind, den Überlebenden am Ende Shakespearescher Dramen gleich, über ihre entmachteten Vorgänger hinweggegangen, die sie über Maßnahmen, die sie später selbst setzten, stolpern ließen. Nixon hat jeden politischen Ausgleich sowohl mit der Sowjetunion als auch mit China so lange als Verbrechen an Amerika verteufelt, bis er sich selbst als der Mann, der Amerika diesen Ausgleich geschenkt hat, feiern lassen konnte. Breschnew hat entscheidend daran mitgewirkt, daß Chruschtschow abtreten mußte — wie heute sichtbar wird, in erster Linie deshalb, weil er jene Reise nach Westdeutschland, von der Breschnew jetzt zurückgekehrt ist, antreten wollte. Sicher hat sich die politische Landschaft inzwischen grundlegend gewandelt — aber ebenso unverkennbar war für Nixon wie für Breschnew der richtige Zeitpunkt für den großen Ausgleich nicht nur eine Frage der politischen Opportunität, sondern auch eine von hoher persönlicher Bedeutung.

Nixon, Breschnew und Mao sind heute Personifikationen der drei großen weltpolitischen Machtfaktoren Amerika, Sowjetunion und China, deren Gegeneinander immer mehr zu einem Zusammenspiel geworden ist, wobei China innerhalb kürzester Zeit die Rolle des Dritten im Bunde perfekt gelernt hat. Jede dieser drei Supermächte nimmt heute in der Weltpolitik lediglich den Rang ein, der ihr auf Grund ihrer jeweiligen Machtbasis gebührt — wobei die Gefahr besteht, daß Europa in eine Außenseiterrolle gedrängt wird.

Daher wird das Arrangement zwischen Bundesrepublik und Sowjetunion ungeachtet aller etwas besser oder etwas weniger geschickt ausgehandelten Details für Europa dann eine Katastrophe sein, wenn die Annäherung an die Sowjetunion Westdeutschland dem Rest von Westeuropa auch nur um ein Weniges entfremdet — und dann ein Segen, wenn sich Deutschland damit den Rücken freigemacht hat, seine Rolle in einem immer stärker integrierten Westeuropa noch besser als bisher zu spielen.

Die Schattenseiten und Schwierigkeiten dieser Integration zu leugnen, wäre sinnlos, aber die Alternative lautet nicht: mehr für einzelne europäische Staaten, sondern: weniger für ganz Europa.

Karikatur: Haitzinger

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