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Die Nachrichten aus Un-garn, aus der DDR, aus der CSSR haben in Österreich sensationell gewirkt. Allmählich verbreitet sich ein Gefühl von Neid und Nachahmungstrieb. Warum die und wir nicht?

An einem strahlenden Wintertag war's soweit. Spontan zogen die Wiener in hellen Scharen dem Zentrum ihrer Stadt entgegen. Sie waren in beschwingter Stimmung, denn sie dachten daran, daß nun auch sie in den internationalen Fernsehprogrammen zu sehen sein würden. Bald war der Graben, war der Stephansplatz voll von Menschen.

Es wurden immer mehr, sie quollen förmlich über in die Seitengassen, in die Rotenturm-straße, in die Kärntner Straße. Sie füllten den Graben in dicht gedrängten Mengen. Es war fast beängstigend, und die Taschendiebstähle florierten.

Ein Unbekannter mit großem Hut kletterte auf das Dach eines Taxis. Schweigen verbreitete sich.

„Österreicherinnen und Österreicher, Wienerinnen und Wiener!“ rief er. „Wir... wir...“. Er hielt inne und wußte nicht wie er weiterreden sollte. „Wir wollen...“

Was wollen wir eigentlich? dachte er. Das, was die wollen, haben wir ja, freie Wahlen, keinen Herrschaftsanspruch einer Partei in der Verfassung. Wir haben eine demokratische Regierung, wir haben eine Opposition, wir haben eine Steuerreform, wir bekommen eine Pensionsreform...

Je deutlicher ihm das klar wurde, und mit ihm allen, die inzwischen auf mehr als Hunderttausend angewachsen waren, umso lauter wurde sein „ Wir“, dem nichts folgte als das nächste „Wir“.

Bis in der Gegend der Pestsäule einige aus dem rhythmischen „Wir“ in die Melodie „Wien, Wien, nur Du allein“ übergingen, die, alsbald von seinem Nachbarn und dann von der ganzen Menge aufgegriffen, hunderttausendstimmig gesungen wurde, zweimal, dreimal, viermal, nur der Refrain, den restlichen Text kannte keiner. Auf die Idee, die Bundeshymne zu singen, kam niemand.

Alle fühlten sich erleichtert und erhaben. Es war ein großer Tag der Selbstverwirklichung gewesen. Und die Hunderttausend zerstreuten sich allmählich in froher gelöster Stimmung, gingen teils in Kaffeehäuser, teils zum Heurigen.

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