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Breschnjews Traum

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Der Erste Sekretär der KPdSU träumte, daß er sich in einer wunderschönen Landschaft befand. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Landschaft nach den Prinzipien des sozialistischen Realismus gestaltet und daher für ihn ungefährlich war, sah er, daß ein weibliches Wesen auf ihn zukam.

„Wer bist du?“ fragte er.

„Ich bin eine Fee“, sagte sie.

Sie war angenehm anzusehen und geschmackvoll angezogen. Da sie nicht flog und nicht schwebte sondern ging, widersprach sie den Gesetzen des wissenschaftlichen Sozialismus nicht, und der Erste Sekretär war zu seiner Freude nicht genötigt, zu träumen, daß er sie verhaften lasse.

Die Fee lächelte den Ersten Sekretär freundlich an. Der Erste Sekretär erwiderte ihr Lächeln.

„Lenin sei mit dir“, sagte die Fee.

„Das walte Marx“, antwortete der Erste Sekretär. Dann fragte vru„Wie kommst du hierher und wie komme ich hierher?“

„Du träumst mich“, sagte die Fee.

„Ich weiß“, sagte Leonid Breschnjew. „Aber ich muß mich auch im Traum vor Abweichungen hüten. Du bist doch keine übersinnliche oder mystische Erscheinung?“

„Nein“, sagte die Fee. „Ich bin die Personifikation deines Unbewußten.“

„Bravo!“ rief der Erste Sekretär. „Ich hätte nicht gedacht, daß mein Unbewußtes so attraktiv ist. Hoffentlich erscheinst du mir nicht auf Grund der Lehren von C. G. Jung oder Sigmund Freud. Dann müßte ich nämlich, leider, sofort aufwachen.“

„Nein, Genosse Parteisekretär. Ich halte mich streng an die Richtlinien des letzten allrussischen Psychologenkongresses. Dein Traum stimmt mit den

Grundsätzen des dialektischen Materialismus überein. Du hörst von mir nur das, was du selbst denkst. Und das, was^du denkst, stimmt mit der derzeitigen Parteilinie überein.“

„Hoffentlich“, sagte der Parteisekretär. „Und was willst du mir sagen? Oder — eigentlich: Was sage ich mir durch dich, Genossin Fee?“

„Du sagsit dir durch mich, daß es Zeit wäre, die schöne Parole der Entspannung, des Gewaltverzichts und der friedlichen Koexistenz durch eine spektakuläre Tat zu krönen. Es gibt ein großes Volk, mit dem du dich versöhnen solltest, ein Volk, das Angst vor dir hat und vor dem du Angst hast. Schließe Frieden mit diesem Volk, schaff die gegenseitige Angst aus der Welt.“

„Ich weiß, ich weiß“, rief der Erste Sekretär. „Jetzt erkenne ich endgültig, daß du nur meine eigenen Gedanken ausdrückst.“

Er erwachte und ordnete an, daß man seine Reise nach Bonn vorbereiten solle. Er flog nach Bonn, gab sich dort locker und konziliant und tat alles, was er konnte, um die gegenseitige Angst aus der Welt zu schaffen.

Nach Moskau zurückgekehrt, träumte er in der ersten Nacht, daß ihm die Fee wieder in der wunderschönen Landschaft entgegenkam.

„Bist du mit mir zufrieden, Genossin Fee?“ fragte er. „War das nicht eine gute Sache, diese große versöhnliche Kundgebung in der Bundesrepublik?“

„Eine gute Sache, Genosse Parteisekretär; aber...“

„Aber? Hast du denn nicht das gemeint, als du mir in meinem ersten Traum erschienen bist?“

„Nein, Genosse Parteisekretär. Das Mißverständnis war segensreich, der Friede mit Westdeutschland ist erfreulich, aber noch ist die Versöhnung mit dem großen Volk, das ich eigentlich meine, nicht vollzogen. Dieses Volk, ich wiederhole es, hat Angst vor dir, du hast Angst vor ihm. Schließ Frieden mit diesem Volk, schaff die gegenseitige Angst aus der Welt.'“

„Du hast recht“, rief Leonid Breschnjew; er erwachte so schnell er konnte und ordnete an, daß man seine Reise nach Washington vorbereiten solle. Er flog in die Vereinigten Staaten, gab sich dort locker und konziliant und tat alles, was er konnte, um die gegenseitige Angst aus der Welt zu schaffen.

Nach Moskau zurückgekehrt, träumte er in der ersten Nacht, daß ihm die Fee wieder in der wunderschönen Landschaft entgegenkam.

„Na, wie habe ich das gemacht?“ fragte er die Fee.

„Erstklassig, Genosse Parteisekretär“, sagte die Fee.

„Ich habe aus Feinden Freunde gemacht', sagte Breschnjew.

„Ja, aber noch immer nicht aus allen Feinden“, sagte die Fee. „Es gibt noch ein Volk...“

„Ich weiß“, unterbrach sie Breschnjew und seufzte. „Die Chinesen. Wenn ich auch mit ihnen zu einem Ausgleich käme, wäre die ganze Welt friedlich. Aber das kann ich nicht. Sie wollen ja nicht.“

„Ich habe nicht die Chinesen gemeint“, sagte die Fee.

„Albanien?“ fragte Breschnjew, und da sie den Kopf schüttelte: „Ich sehe überall Frieden, Entspannung, Ausgleich, Koexistenz.“

Die Fee schüttelte wieder den Kopf. „Nein, Genosse Parteisekretär. Du weichst deinen eigenen Gedanken aus. Verdränge sie nicht länger. Es gibt noch ein großes Volk, mit dem du dich versöhnen mußt; dann wirst du als Mann des Friedens in die Geschichte eingehen ...Es gibt ein Volk, das in Angst lebt und das dir Angst macht. Schaff diese Angst aus der Welt! Du kannst es. Bekenne dich feierlich zum Gewaltverzicht! Schließ Frieden mit dem russischen Volk!“

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