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Eime Frau hält Gerichtstag

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„Lassen Sie das Kind vor dem ersten Schrei in den Kübel plumpsen", so lautete der Auftrag des Klinikchefs. Das Ertränken von Frühgeborenen, die weniger als 1.000 Gramm wogen, gehörte an Kliniken der DDR zum System.

Leben, das als lebensunwert deklariert wurde, landete im Kübel: Wegwerfleben, Abfall. Mir fällt da eine Warnung Vaclav Havels ein, der einmal bemerkte, der sogenannte posttotalitäre Sozialismus sei eigentlich der bedrohliche „Gipfel" einer Entwicklung, von der es Tendenzen auch im Westen gäbe.

Warum wird Leben vier Monate lang als Sache betrachtet, die aus dem Mutterleib entfernt werden kann - ein paar Monate später aber ist die Frühgeburt menschliches Leben, um das zurecht mit allen Mitteln der medizinischen Kunst gerungen wird?

Wie schwierig es noch immer ist, das Thema Abtreibung bei uns zu diskutieren, beweist die deutsche Schriftstellerin Karin Struck. In ihrem Buch „Blaubarts Schatten", das im Vorjahr erschien, schildert sie ihre Gewissensqualen nach einer Abtreibung: 15 Jahre danach, aber noch immer sind diese 320 Seiten ein einziger Aufschrei. Karin Struck, die der linken Szene angehörte und mehrere Kinder hat, fragt sich, ob sie dieses Unglück erleiden mußte, damii: sie verstehe, „daß Abtreibung Tod und Tötung und Krieg ist". Krieg gegen Kinder, Krieg gegen sich selbst.

Die Autorin schildert auch eindringlich die Gesetzmäßigkeiten der „Gehirnwäsche", der sie sich unterworfen fühlte. Weil das Kind angeblich kein Mensch war, war es auch nicht wirklich, daß es tot war:,Aber ich fühlte, daß eine Person gestorben ist. Doch weil mir alle verboten, zu schreiben, was ich fühlte, mußte ich schweigen... Ich bin erschöpft von meiner Feigheit. Was am meisten erschöpft, ist die Anpassung... Ich darf nicht reden. Sie schreien. Sie überschreien mich seit fünfzehn Jahren."

Eine Frau hält Gerichtstag über sich selbst - mit Hilfe der Literatur. Und das, was Karin Struck als „Gehirnwäsche" bezeichnet, geht auch in vielen Kritiken über dieses Buch weiter: Wut und Empörung sind oft die Reaktionen, und dann nicht selten das vernichtendste Urteil: Das ist keine Literatur mehr!

Nur der Kritiker der FAZ kam zu einem bemerkenswerten Schluß. Er interpretierte das Bekenntniswerk als „erschrek-kende Zwischenbilanz" von 20 Jahren weiblicher Emanzipation: „Die emanzipierte Frau ist einsam. Aus ihrer neuen Freiheit, keine Kinder gebären zu müssen, ist vor allem die Freiheit der Männer geworden, keine Familie zu gründen... Die Frau kann den Mann nicht auf eine Bindung verpflichten, aus der sie sich selbst gelöst hat..."

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