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Heucheln
Die SPD hat dieser Tage ihren mutmaßlichen Kanzlerkandidaten verloren, einen jungen Hoffnungsträger: Oscar Lafontaine wurde der Unfähigkeit zum Heucheln überführt.Der saarländische Ministerpräsident hat nämlich laut darüber nachgedacht, wie man ein weiteres Übersiedeln von Bürgern der DDR in die Bundesrepublik begrenzen könnte. Zuerst hat er gemeint, man könnte dies über eine eigene DDR-Staatsangehörigkeit tun, weil man ja aus einer künftig demokratischen DDR nicht mehr einfach die Tore offenhalten muß für Flüchtlinge.
Damit hat er aber bereits mit dem Schlachtbeil eine heilige Kuh gestreift. Unverdrossen hat der freche Oscar weitergeforscht und ein altes Gesetz aus dem Jahre 1950 aufgespürt, wonach die Aufenthaltsgenehmigung für DDR-Bürger in der BRD zu verweigern ist, wenn weder ein Arbeitsplatz noch eine Wohnung nachgewiesen werden kann.
Genau dieses - vor dem Mauerbau wegen anhaltenden Zustroms von drüben unter der Regierung Adenauererlassene Gesetz wäre jetzt nämlich sinnvoll. Obwohl mir mein Kopf lieb und teuer ist, würde ich ihn jederzeit verwetten, daß bei ernster Befragung - nicht vor der Kamera! - die große Mehrheit der Bundesbürger angesichts eines so krassen sozialen Gefälles die totale Freizügigkeit auch für eine Katastrophe hält.
Erstens kostet uns die Versorgung und Integration von Hunderttausenden von Aussiedlern und Übersiedlern Milliarden Mark, zweitens hängen sich jährlich Hunderttausende über Arbeitslosenhilfe, Sozialwohnungen und Rentenversicherung in unser soziales Netz, das ein paar hundert Flüchtlinge jährlich noch problemlos mittragen konnte.
Zweitens fehlt uns dieses Geld zur Hilfe für den Neuaufbau in der DDR selbst. Sogar wenn wir herüben und drüben für die Brüder und Schwestern zahlen, ist bald die DDR insgesamt nicht mehr funktionsfähig.
Aber die Optik! Wie sieht das aus - noch dazu im längst begonnenen deutschlandpolitischen Wahlkampf! - wenn man mitten im Jubel um die Öffnung der Mauer und Stacheldraht schon vorausdenkt und vor schlimmen Folgen warnt? Undeutsch sieht das aus! Eine Versündigung wider das Gebot der deutschen Einheit ist das. Darum hat die CDU/CSU sofort aufgejubelt über diesen Ehrlichkeits-Ausrutscher von Lafontaine. Und darum hat sich die SPD sofort geschämt und von ihrem stellvertretenden Parteivorsitzenden distanziert.
Wer nicht heucheln kann, muß gehen.
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