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Redeverbot

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Der Titel meiner Kolumne in der FURCHE bekommt plötz­lich eine ungeahnte deutsch­deutsche Aktualität. Die Mehr­heit am „Runden Tisch"in Ost-Berlin hat nämlich den persön­lichen Auftritt von bundesdeut­schen Politikern im Wahlkampf der DDR für unerwünscht er­klärt. Jetzt heißt es für Kohl, Vogel, Genscher, Lambsdorff, Brandt, Waigel und Lafontaine entweder trotzig trotzdem „rüberzumachen" oder es gilt die Parole: „Frisch übern Zaun gesprochen!"

Wie so oft im Leben - und wie auch in Österreich hin und wieder nicht ganz selten - ist hier der Neid der Vater des Gedankens. Den Beschluß haben nämlich diejenigen Par­teien und Gruppierungen durchgedrückt, die keine Part­ner im Westen haben und somit keine eigenen Gastredner.

Im Augenblick sieht es aller­dings so aus, daß die Dynamik der deutschen Vereinigung weder von den Bonner noch von den Ost-Berliner Politikern bestimmt wird, sondern von der Bevölkerung in der DDR. Die­se begreift nicht nur von Tag zu Tag mehr, wie tief der Staats­bankrott der SED an die Wur­zeln und die Substanz der DDR gegangen ist. Sie hat vielmehr auch das Gefühl, bereits in ei­nem total einsturzbedrohten Gebäude zu leben.

Derzeit kommen jeden Tag rund 2.000 Menschen aus der DDR in die BRD, das waren allein im Jänner über 60.000 Menschen. Jeder, der drüben abhaut, hinterläßt jedoch an seinem Arbeitsplatz eine Ver­sorgungslücke, durch die sofort die davon Betroffenen als näch­ste nachrücken. Dem letzten Arzt werden die Kranken auf der Bahre nachgetragen!

Der totale Zusammenbruch der DDR ist nur noch eine Fra­ge von Wochen oder Monaten. Dann brauchen sich weder Al­liierte noch EG- oder KSZE-Mitglieder irgendwelche Ge­danken über Termin und Form einer deutschen Wiedervereini­gung zu machen. Dann ist sie nämlich einfach da - per Völ­kerwanderung! Schließlich kann niemand im Zentrum Europas ein Chaos mit 16 Mil­lionen unversorgten und ver­zweifelten Menschen wollen, denen niemand hilft.

Umso lächerlicher ist es, wenn solche Traumtänzer am Runden Tisch glauben, sie könnten den westdeutschen Politikern drüben Redeverbot erteilen. Während diese doch in Wirklichkeit bereits an Kata­strophenplänen arbeiten, wie sie den Kollaps der DDR auf­fangen. Außerdem kann jeder westdeutsche Politiker sowie­so mit jedem Statement in ARD und ZDF sämtliche Fernsehzu­schauer in der DDR anspre­chen. Um den Wahlkampf in der DDR zu beeinflußen, braucht keiner zu einer Kund­gebung hinüber zufahren. Der persönliche Auftritt ist eher eine Geste der Höflichkeit und der Ermutigung, drüben zu bleiben.

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