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FURCHE: Was weiß man über das Funktionieren des Gedächtnisses?

GISELHER GUTTMANN: Gedächtnisforschung steht an der Wiege der Psychologie. Hermann Ebbinghaus hat um 1880 begonnen, über Mechanismen des Vergessens zu arbeiten, andererseits hat man bis heute keine allgemein akzeptierte Modellvorstellung des Gedächtnisses. Ein wesentlicher Einstieg liegt also 100 Jahre zurück - die Erkenntnis, daß das Gedächtnis ganz anders funktioniert als jeder technische Informationsspeicher, es hängt nämlich die Fähigkeit des Einspeicherns von Anfang an von der Endkapazität ab.

FURCHE: Was bedeutet das?

GUTTMANN: Inhalte sind umso schwerer einzuspeichern, je umfangreicher sie werden, und zwar in einer ganz stark zunehmenden Funktion. Ein bisserl was merkt man sich leicht, ein bisserl mehr schon sehr viel schwerer, ein kleiner Schritt dazu, und es wird ungeheuer schwer. Dieses „Gesetz von Ebbinghaus” war das erste präzis formulierte gedächtnispsychologische Prinzip: Mit jedem Zuwachs des Umfangs des Lernmaterials steigt der Einprägungsaufwand überproportional an. Der zweite Schritt, der mit dem Namen Ebbinghaus noch stärker verbunden ist, führt zu den Gesetzen des Vergessens. Er konnte zeigen, daß mit zunehmender Zeit nach dem Lernprozeß das eingeprägte Material mit erstaunlichem Tempo wieder aus dem Gedächtnis aussickert. Für sinnfreies Material, das man ohne assoziative Verkettungen erstmals einprägt, beträgt die Halbwertzeit 30 Minuten.

FURCHE: Mit welcher Art Material experimentierte er?

GUTTMANN: Er hat eine Kunstsprache entwickelt, bei der aus Konsonant- Vokalkonsonantfolgen sinnfreie Silben gebildet werden, mit denen er das „reine Gedächtnis”, wie er es nannte, untersuchte. Die Ebbinghaussche Vergessens-kurve ist nicht leicht zu überlisten. Die einfachste Strategie wäre ja: Nach dem Einprägen fleißig weiterlernen. Büffeln. Ebbinghaus hat systematisch untersucht, was passiert, wenn eine Person ein Material lernt und dann eine Pause einlegt, während eine andere intensiv weiterlernt. Das Weiterlernen hat nahezu keinen Effekt. Das „Überlernen”, wie er es nannte, ist, als würde man in ein volles Gefäß weiter nachfüllen. Später zeigte sich: Die einzige Möglichkeit ist, nach einer Zeit des bewußten Stoffverlustes aus dem Gedächtnis eine Wiederholung einblenden, die das Material wieder auf hundert Prozent zurückholt, dann eine etwas größere Zeit verstreichen lassen und in diesem sägezahnartigen Spiel davon Gebrauch machen, daß die Ver-gessenskurve glücklicherweise immer flacher wird. Es geht immer weniger verloren.

FURCHE: Besteht die Gefahr des Überlernens hier nicht?

GUTTMANN: Es muß vor der ersten Wiederholung eine kleine Zeitspanne verstreichen, sonst wäre es reines Überlernen.

FURCHE: Minuten?

GUTTMANN: Das war die interessante Frage, die ich 1985 für das Ebbinghaus-Meeting bearbeitet habe, da dies noch niemand systematisch untersucht hatte. Man braucht ja für jede Alternative eine eigene Versuchsgruppe, die nicht zu klein sein darf und die Gruppen müssen in Lernleistung und Lernfähigkeit sehr ähnlich sein. Dabei hat sich gezeigt, daß für nicht zu große sinnfreie Inhalte das optimale Wiederholungs-Intervall fünf, zehn und 20 Minuten beträgt.

FURCHE: Wieviel auf einmal?

GUTTMANN: Es soll das Gedächtnis nicht überfordert, nicht allzuviel hineingefrachtet werden, so daß der Inhalt ohne allzu großen Aufwand im Kurzzeitgedächtnis präsent ist.

FURCHE: Spielen dabei individuelle Unterschiede mit?

GUTTMANN: Man kann sie sicher nicht beiseite lassen, aber sie sind nach unseren Erfahrungen nicht so groß, daß man es nicht wagen könnte, ein solches Modell im Schulalltag einzusetzen.

FURCHE: Geschieht dies?

GUTTMANN: Wir haben ein optimales Einprägungs- und Wiederholungsprogramm aufgebaut, es ist in Österreich über zehn Jahre an verschiedenen Standorten erprobt worden und im Fürstentum Liechtenstein ein approbiertes Modell.

FURCHE: An welchen Schulen?

GUTTMANN: Vergleichbar unserer Haupt- und Mittelschule. In Österreich haben wir es jahrelang an allen Schultypen erprobt, Vor-,

Ein Problem kann durch alle bisher aufgezählten Lernstrategien und Kniffe leider nicht einmal ansatzweise bewältigt werden: Wie lernt man eine nahezu unüberschaubare Menge von Einzelinhalten? Wie kann dabei vermieden werden, daß man ständig wiederholt, was schon beherrscht wird, aber links liegen läßt, was besser beachtet werden sollte? „Vokabellernen” ist das Paradebeispiel für die geschilderte Lernsituation... Das Zauberwort lautet: Lernkartei!

Ihre Brauchbarkeit ist mittlerweile so unbestritten, daß im Buchhandel die verschiedensten Inhalte in Form von Lernkarteien angeboten werden. Ohne die Brauchbarkeit einer käuflichen Vokabel-, Phrasen- oder Grammatik-Kartei schmälern zu wollen: Auf die „maßgeschneiderte”, selbstgefertigte Lernhilfe sollte man nicht verzichten!

Ihre Herstellung ist sehr einfach und muß lediglich auf die Inhalte Rücksicht nehmen, die festgehalten werden sollen. Sind es Vokabel, genügen kleine Kärtchen im Format 5 mal 5 Zentimeter, damit sie in eine der handelsüblichen (in Fotogeschäften erhältlichen) Dia-Schachteln passen. Ist in der Dia-Box nicht bereits eine Untertei-

Volks-, Sonder-, Hauptschule und AHS. Ich baue das jetzt in Liechtenstein auf.

Der derzeitige Fürst Hans Adam von Liechtenstein hat mich, als sein Vater noch lebte und er noch nicht Fürst war, besucht, ist in die Klassen gegangen, hat sich das Modell dort angesehen und mich eingeladen, in Liechtenstein ein Lehrerteam auszubilden.

Was mir noch mehr Freude macht: Die Stiftung „Neues Lernen”, die Peter Ritter leitet, baut gemeinsam mit mir ein Institut auf, das auf dem Gebiet der Lerntechniken und Optimierung von Trainings- und Ausbildungsprogrammen weltweit, auch in Entwicklungsländern, tätig sein soll. Das reicht vom Alphabetisierungsprogramm bis zum Management-Training. Es handelt sich hier um den Versuch, etwas nutzbar zu machen, nicht um den State of the art der Gedächtnisforschung.

FURCHE: Und wie schaut dieser State of the art aus?

GUTTMANN: 1900 wurde ein Schlüsselexperiment gemacht. Eine

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