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„Der gfoße Verzicht“

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Weltüberwindung durch Gewaltlosigkeit oder Weltbeherrschung durch Gewalt, die schließlich ihrer eigenen Dämonie unterliegt, ist eine Entscheidungsfrage, welche die ganze Weltgeschichte durchzieht. Reinhold Schneider hat sie in den beiden großen Antipoden auf dem päpstlichen Stuhl, Cölestin V. und Bonifaz VIII., verkörpert gesehen. Diese Gestalten gehen durch alle Jahrhunderte, mögen sie in jüngster Vergangenheit Gandhi und Stalin oder sonstwie heißen.

Ein Werk wie „Der große Verzicht“ stellt das Theater vor ein Problem. Publikumswirksam wird dieses Stück niemals werden. Es verlangt mehr als durchschnittliche Geschichtskenntnis, nicht nur des Kampfes um den Papstthron zu den Zeiten des verfallenden Mittelalters, sondern tiefstes Durchfühlen des Ablaufes der Geschehnisse, denn — wie schon gesagt — Petrus von Murrhone und Benedetto Gae-tani begegnen uns in allen Jahrhunderten von der grauen Vorzeit bis heute, nicht nur in den Staatskanzleien, sondern auch in schlichten menschlichen Bereichen. Der eine hat die ewige Wahrheit erfaßt, bleibt aber in' seinem Besitz allein und scheitert schließlich daran, der andere steht mit beiden Füßen auf der Erde und merkt nicht, daß er letztlich zum Spielball dämonischer Gewalten wird.

Die Leitung der Bregenzcr Festspiele hat mit dieser Welturaufführung eine Tat gesetzt, für die ihr nicht genug gedankt werden kann. Dieses Lob gilt auch, wenn man die Erkenntnis hinzufügt, daß niemand, der nicht zutiefst im Christentum wurzelt und selber unter dem Riß zwischen dem Sollen und dem Können leidet, bis zum Schluß mitgehen kann. Gegen-

über dieser Einschränkung wiegt die andere, daß das Drama bis zum entscheidenden neunten Bilde, dem Thronverzicht Cölestins V., straffei gefaßt ist als später und daß die letzten acht Bilder Kürzungen vertragen hätten, wesentlich leichter. Man hat es hier nicht mit Theater in landläufigem Sinne zu tun.

Gewissenhafte Historiker nehmen vielleicht daran Anstoß, daß Cölestin V. nicht ermordet wurde und daß Bonifaz VIII. nicht unmittelbar nach seinem Opfer, sondern erst sieben Jahre später starb. Hier handelt es sich aber nur um dramatische Verstärkungen der geschichtlichen Wahrheit. In Wirklichkeit ist Bonifaz VIII. eine genau so tragische Figur wie Cölestin V. Er sieht, daß der Heilige, der nicht an der Macht ist, die Welt nicht retten kann, und daß der, der kein Schwert segnen will, das Schwert herrschen sehen muß. Seine Bulle „Unam sanctam“ war ein genialer Anachronismus. Der Papst, der sich am höchsten erhoben hatte, wurde am tiefsten gedemütigt und starb an der Schmach. Damit bleibt das Wort des Königs von Neapel an Cölestin V.: „Willst du der einzige sein, der unverletzten Gewissens sein Amt getragen hat?“ Eine furchtbare Rede an die Großen der Erde.

Es ist unmöglich, sämtliche Darsteller — gegen vierzig an der Zahl — zu nennen. Hervorragend ist das Spiel der beiden Hauptträger Ewald Baiser und Ernst Deutsch. Die Regie von Josef G i e 1 e n und die prachtvollen Bühnenbilder von Teo Otto helfen über die bedeutenden Schwierigkeiten der Aufführung hinweg. Zum Schluß noch ein Dank an Direktor Bär für sein Wagnis

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