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Stunde der Bewährung

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Vor genau 50 Jahren wählte die Nationalversammlung in Weimar einen Sozialdemokraten zum ersten Präsidenten der jungen Republik. Der Sattler Friedrich Ebert hatte kein Glück, da selbst die eigenen Genossen ihm nicht zu dem notwendigen Prestige verhalfen und sich ihr Leitbild in den Männern der Rechten suchten. Der zweite sozialdemokratische Präsident, Gustav Heinemann, hat bisher größeres Stehvermögen bewiesen, obwohl er aus anderen Gründen vielen seiner Parteigenossen nicht ganz geheuer sein mag. Ein wohlhabender Justitiar der Montanindustrie, obendrein engagierter und nonkonformistischer Christ — kann er der profillos gewordenen Partei zu neuem Image verhelfen?

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Vor genau 50 Jahren wählte die Nationalversammlung in Weimar einen Sozialdemokraten zum ersten Präsidenten der jungen Republik. Der Sattler Friedrich Ebert hatte kein Glück, da selbst die eigenen Genossen ihm nicht zu dem notwendigen Prestige verhalfen und sich ihr Leitbild in den Männern der Rechten suchten. Der zweite sozialdemokratische Präsident, Gustav Heinemann, hat bisher größeres Stehvermögen bewiesen, obwohl er aus anderen Gründen vielen seiner Parteigenossen nicht ganz geheuer sein mag. Ein wohlhabender Justitiar der Montanindustrie, obendrein engagierter und nonkonformistischer Christ — kann er der profillos gewordenen Partei zu neuem Image verhelfen?

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Eins ist sicher: im Gegensatz zu seinem Vorgänger tritt er kein schweres Erbe an. Seit Jahren, schon seit dem unseligen Hick-Hack Adenauers um den Präsidentensessel, hat dieser — ohnehin von den Vätern des Grundgesetzes spartanisch ausgestattet — keinen einladenden Glanz mehr verbreitet. Heuss hatte seine Dimensionen zäh und mit schwäbischer List weit über das Protokoll hinaus erweitert. Damals saß ein pater patriae mit schlohweißem Haar vor dem Mikrophon' und später den Fernsehkameras, dessen Gedankenflug nur jeder dritte verstand, aber mindestens jeder zweite ehrfurchtsvoll respektierte. Als er starb, trauerte ein Volk um seinen Vater. Heinrich Lübke hatte nur einen Fehler: aus Pflichtgefühl diesen Sessel nicht früher geräumt zu haben. Trotzdem war die Zahl derer, die ihm vertrauten und sich von der Kampagne des „Sterns“ und „Spiegels“ nicht einschüchtern ließen, sicherlich größer, als der unrühmliche Abgang vermuten läßt. Erst im Abstand der Jahre wird sich feststellen lassen, was wir schon jetzt sagen: daß ein bescheidener Bundespräsident wie Lübke seinen Platz ebenso gut ausfüllte wie ein genialer. Gustav Heinemann hält sich gewiß für kein Genie, und seine Bescheidenheit, die außer Zweifel steht, entspringt einem gelassenen Wertgefühl, gehärtet durch einsame, von vielen mißbilligte und doch letzten Endes respektierte politische Wanderungen. Eins ist der neue, dritte Präsident der deutschen Bundesrepublik aber gewiß nicht, und dies dürfte den Ausschlag zu seiner Wahl gegeben haben: prätentiös und ambi-tioniert. Was sein Konkurrent Gerhard Schröder unumwunden zugibt: wie süß die Macht schmeckt, ist als Wort aus dem Mund eines Gustav Heinemann unvorstellbar. L'etat — c'est mod kann allenfalls noch ein amerikanischer Präsident ungestraft als Leitwort haben. Erster Diener seines Staates zu sein — das steht einem deutschen Bundespräsidenten an, zumal wenn er Gustav Heinemann heißt.

Fraglich bleibt allerdings, wie dieser Staat in den Augen seines ersten Repräsentanten beschaffen sein soll. Die anarchistischen Umtriebe radikaler Minderheiten, die Ideologisie-rung mit Linksdrall, die effektive Verkennung politischer Wünsche der Völker in den sozialistischen Staaten, wie sie in der Ostpolitik der Koalitionsregierung immer wieder offenbar wird: wird der neue deutsche Bundespräsident lie in Gelassenheit und in den Grenzen seines Amtes wieder zurechtrücken helfen? Die Mehrzahl aller Deutschen in West und auch Ost hat keinen anderen Wunsch. Die Stunde der Bewährung für Gustav Heinemann hat trotz aller Verdienste, die er sich als Justizminister bereits erworben hat, nun erst geschlagen.

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