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Der Ekstase verfallen

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360 Blätter - das druckgrafische Werk - Henri Toulouse-Lautrecs in der Neuen Galerie Linz

Natürlich kann man sich fragen, ob er ein Jugendstilkünstler war oder ein Expressionist, ob und weshalb das eine in das andere überging. Doch damit wäre nur ein Gesichtspunkt aufgegriffen im Schaffen von Henri Toulouse-Lautrec- In dem bis 21. Jänner in Linz gezeigten, gesamten grafischen Werk, wird ein Mensch sichtbar,

der nur mit dem Stift in der Hand glücklich sein konnte. Oder mit dem Pinsel auf dem Lithostein, mit dem er Plakate entwarf, die voll Unruhe in den Straßen von Paris brannten.

Sollte es nicht jene dionysische Schönheit künstlerischer Selbstentäußerung gewesen sein, von der in der Kunstbetrachtung die Rede ist? Dagegen spricht - obwohl er trunksüchtig und der Ekstase in vieler Hinsicht verfallen war - sein aufmerksamer und eindringlicher Blick auf die Menschen seiner Umgebung.

Die aus einer Erbkrankheit resultierende Knochenschwäche ließ den Künstler bereits in 'jungen Jahren zum Krüppel werden, doch seit er überhaupt die Möglichkeit hatte, zeichnete und malte er, die Pferde und Hunde seines gräflichen Vaters, eines passionierten Jägers und exzentrischen Schauspielers, über dessen Verkleidung die Leute von Albi heute noch lachen. Auch das Musische, die Faszination durch die Kunst, war ein Familienerbteil.

Obwohl er seine Angehörigen liebte, wollte der Künstler nicht im südfranzösischen Albi bleiben, wo

er 1864 zur Welt gekommen war. Paris brachte seiner künstlerischen Arbeit Wertschätzung entgegen, gab dem Aristokraten ein Zugehörigkeitsgefühl zu den einfachen Menschen, zu Tänzerinnen und Freudenmädchen, bei denen der Verwachsene körperliche Nähe und so etwas wie Wärme fand. Seine

Fähigkeit zur Hochachtung und sein Schönheitsempfinden machten vor ihnen nicht halt. Seine andere, genauere Optik umriß die Gestalten mit feingliedrigem Strich, modellierte sie mit weich gezeichneter Fläche.Es war ein Blick, der präzise die sozialen Zustände zu Ende des neunzehnten Jahrhun-

derts aufgriff, die Verachtung der Gesellschaft für die Frau bloßlegte. Eine Verachtung, die das weibliche Geschlecht seit Jahrhunderten selbst internalisiert hatte. Messerscharfes, lustvolles Beobachten, wenn er sie tanzen sah, singen hörte: Jane Avril, May Beifort, die wirbelige Clownin aus dem Moulin Rouge, Cha-u-Kao. Er spürte ihre innere Distanzierung. Der entblößende, gesteigerte, karikierende Duktus des Henri Toulouse-Lautrec verwahrte sich gegen die äs-thetisierte Verelendung der Menschen.Erst spät fand der Maler und Zeichner seine druckgrafische Technik. An diesen Lithografien und Plakaten wird sichtbar, daß er sich mit dem Japonismus und mit dem japanischen Holzschnitt auseinandergesetzt hatte. An den herrlichen Plakaten, für Aristide Bruant, den damals besten Chansonnier von Paris, oder den geistvollen Blättern aus dem Album Yvette Guilbert, wird dies deutlich.

Das Plakat „Confetti“, geschaffen für J. & E. Bella in London, läßt erkennen, daß auch kalligrafische Elemente zum Zug kamen, daß die Bewegungsintensität für Toulouse-Lautrec einen hohen Stellenwert besaß, daß er sie in Vornehmheit, witzig und ironisch - und zugleich auch leidend - für seine Kunst nutzte. Der Künstler, der nächtelang zeichnete und in der Druckerei begierig auf den ersten Abzug wartete, verbrannte an alledem, am übergroßen Alkoholgenuß, an der Hingabe an seine Werke, die ihn zu einer subjektiven Transzendenz führten. Seine schweigsamen Arbeiten tragen kammermusikalische und für die Moderne signalhafte Kennzeichen.

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