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SIE LEBTEN IN PARIS

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Eine seltsame, aber keine sinnlose Konstellation. Wenn man die strikte Chronologie berücksichtigt, kann man sie als Zeitgenossen bezeichnen: Der Mäler wurde 1864, der Komponist 1866 geboren. Der Verlauf ihres Lebens hait sie aber nicht zueinander geführt und, als Toulouse-Lautrec 1901 stirbt, hatte er bereits 1899 für viele Monate von der Pariser Künstlerwelt Abschied nehmen müssen. Satte seinerseits, der ihn 25 Jahre überleben sollte, hatte um die Jahrhundertwende noch nicht ganz zu seiner echten Originalität gefunden.

Durch ihre Lebensweise und den Kreis der Bekannten und Freunde aus dem Pariser Nachtleben hätten sie wohl gemeinsame Berührungspunkte haben können. Satie war bekanntlich, vor allem in seinem ersten Lebensabschnitt (1886 bis 1898), in der Hauptstadt ein echter Bohemien gewesen, und in den Künstler- oder Literatencafés der Grands Boulevards oder von Montmartre — „Le chat noir“, „L’auberge du clou“ —, in denen er als Pianist angestellt war, wäre es ihm leicht möglich gewesen, Toulouse-Lautrec zu sehen, wenn nicht ihn kennemzulemen. Auch Saties enge Freundschaft mit Suzanne Valadon, als er selbst auf dem Montmartre wohnte, hat ihm sicher Gelegenheit gegeben, mit anderen Künstlern der Avantgarde zu verkehren. Wenn Satie auch 1898 Montmartre verläßt und sich nach Arcueil-Cachan zu- riickzieht, bleibt er doch wie früher ein Pariser Noctambule; für Paulette Darty, eine Chansonette des „Empire“- Varieté, schreibt er Walzer und Romanzen, und er arbeitet mit den Chansonniers des „Lapin Agile“ zusammen weiter, für die Toulouse-Lautrec Plakate oder Programme zeichnet. Trotz der schon 1891 mit Debussy geschlossenen Freundschaft hat aber Saties Ruhm erst 1911 begonnen, als M. Ravel sich für ihn in öffentlichen Konzerten der S. M. I. einsetzt, Jean Cocteau ihn mit Djaghilev bekannt macht und Debussy die von ihm selbst instrumentierten „Gymnopédies“ seines alten Kameraden persönlich dirigiert. Zu dieser Zeiit aber war Toulouse-Lautrec schon zehn Jahre tot.

Es handelt sich hier also nicht darum, persönliche Kontakte zwischen den beiden Künstlern zu erträumen oder sie künstlich auf eine gemeinsame Linie zurückführen zu wollen. Nicht einmal das gleichzeitige Erleben der „Belle Epoque“ verbindet sie. Denn dies ist kein Phänomen, das die tiefen Kraftlinien einer Epoche widerspielgelt und diese charakterisieren kann. Am Ende des 19. Jahrhunderts und — mit Ausnahme vielleicht der 20 Jahre des Second Empire, das immerhin noch ein geschlossenes Gesamtbild der Zivilisation darstellt — wahrscheinlich bereits seit dem Zusammenbruch des Ancien Régime, hat die Kunst — Musik und Malerei — aufgehört, ein homogenes Gesellschaftsphänomen zu sein. Wie die Malerei, bildet die Musik in Frankreich zwischen 1885 und 1914 ein buntes Mosaik, und es fällt dem Historiker schwer, darin einen gemeinsamen Nenner zu finden. Beherrscht Wagners Einfluß einen Teil der Pariser Musikwelt — übrigens ein sehr reger und zukunftsweisen der Stoßtrupp, dem Mallarmé, Claudel, Romain-Rolland ebenso wie V. d’Indy, E. Chausson, P. Dukas oder E. Ohaibrier angehören—, so sind es allerdings andere Komponisten, Bruneau, Charpentier und vor allem Massenet, die in den Fußstapfen des italienischen Verismo und im Geist des literarischen Naturalismus die allgemeine Gunst des großen Publikums, genießen und beeinflussen. Debussys Impressionismus erregt Aufsehen und verursacht sogar Saalschlachten: es bleibt dies aber eher eine Musik für Kenner und Liebhaber. Raveis Originalität und Strawinskys expressionistischer „Fauvismus“ sind noch skandalöser und erst dank Djaghilevs „Russischem Ballett“, das in seiner Art ein „Gesamtkunstwerk“ darstellt und echte Musiker, Maler und Dekorateure wie auch einfältige Snobs begeistert, können sie zu unanfechtbarem Ruhm gelangen. In -diese Welt paßt Saties Musik und Aussage ebensowenig wie Toulouse- Lautrecs Weltbild und Schöpfungen in einer Epoche, in der auseinandergehende Tendenzen beziehungsweise Schulen, schuimäßiger Akademismus, Fauvismus, Impressionismus, Kubismus usw. einen verwirrenden Eindruck hervorrufen.

Eben aber diese innere Distanz und bewußte Distanzierung der beiden Künstler ihrer Umwelt gegenüber verbindet sie. Sie stellt die zwei Sonderlinge auf ein gemeinsames geistesgeschichtliches Niveau, das mit dem Abstand der Jahre ihre tiefe Verwandtschaft dokumentiert. Dem der unbewußten Naivität und dem rührseligen Pathos der naturalistischen Epik; dem tierisch ernsten Bewußtsein des psychologischen Realismus auf der Bühne; der puritanischen Sinnlichkeit der bürgerlichen Oper, die damals von den sagenumwobenen Kurtisanen Thais, Herodiade, Monon oder von der volksnahen Louise, der kleinen Näherin vom Montmartre, beherrscht wird; dem einfältigen „photographischen“ Gepinsel der offiziellen Malerei setzen Toulouse-Lautrec und Erik Satie, jeder in seinem Bereich, den Geist der Sellbstironie, der beißenden Kritik,- ja sogar des Sarkasmus entgegen. Es hieße offene Türen einrennen, hier noch einmal die trockene, unerbittliche Sachlichkeit Lautrecs in Erinnerung zu bringen, seine „zurückhaltende Pointierung“, seine „kalte Distanziertheit“, sein „Vergnügen an Geglitzer und Turbulenz der Dinge“, das innere Bedürfnis hervorzuheben, das ihn allmählich von der Malerei ablenkte und zum genialen Zeichner machte, dessen „verräterisches Augenfunkein, ein sekundenlang verzogener Mund“ zu verstehen gibt, daß er die Komödie der menschlichen Eitelkeiten hellsichtig, aber auch mit „durchdringender Traurigkeit“ beobachtet und beurteilt.

Alle jene Eigenschaften kann aber auch Satie sein eigen nennen. Jean Cocteau hat in seiner bekannten Aphorismensammlung „Hahn und Harlekin“ (1918) vor allem auf die späteren Werke des „Ibon Maître“ von Arcueil hingewiesen, die der letzten Schaffensperiode, der sogenannten „musique dämeufolement“ angehören, bei denen kein Tropfen romantisch-sentimentaler „Sauce“ zu finden ist. Aber auch die früheren Kompositionen Saties weisen dieselbe „äußerste Präzision in der festgehaltenen Bewegung“ des musikalischen Rhythmus, dieselbe „spielerische Ironie“, dieselbe zynische Unerbittlichkeit“ der Beobachtung auf. Saties Klavierstücke zeichnen sich nicht nur durch die humoristische Absonderlichkeit ihrer Titel aus: „Morceaux en forme de poire“, .Affolements granitiques“, „Embryons desséchés“ usw. Seine . miniaturisierte“ Programmusik in „Sports et Divertissements“ (21 Klavierstücke, deren jedes durchschnittlich kaum eine Minute dauert) zeugt von einer amüsanten und amüsierten Beobachtungsgabe, die mit Toulouse- Lautrecs Manier beim Illustrieren und Karikieren stark verwandt ist.

Vor allem aber in seinen letzten Werken und namentlich in „Parade“ (1917) erweist sich Satie als der geistige Bruder Lautrecs. Er war freilich nicht der erste Musiker, den die Atmosphäre der Zirkuswelt angezogen hatte: Offenbachs „Prinzessin von Trapeaunt“ hatte bereits Artisten und Clown® auf die Bühne der Operette gestellt. Es war dies aber eher ein Requisit des Schauspiels, eine pikante Nummer unter anderen Nummern. Satie war es äber beschieden, die wahre Mentalität, das Virtuose in der Akrobatik ebenso wie die illusionSlose Traurigkeit der Jahrmarktsleute einzufangen und ins Musikalische zu übertragen. Saties Musik in seinem „realistischen“ Ballett „Parade“ — nach einem Sujet von Cocteau, mit avantgardistischen Kostümen von Picasso, in der Choreographie von Massine, unter der Leitung des jungen, waghalsigen Emest Ansenmet uraufgeführt — stellt nämlich viel mehr als eine reine „musique d’ameuiblement“ dar: für uns sind heute ihre äußerlichen Merkmale (Verwendung von amerikanischen Jazzthemen und eines bewußt absonderlichen Instrumentariums) nicht mehr so abnormal. Was ihr dauernde Bedeutung verleiht, ist eben die unfehlbare Sicherheit der Rhythmik, der Verzicht auf jedes Pathos, ein emotioneller und zugleich sich selbst verlachender Weltschmerz und das Bewußtsein, daß die Parade, also die Zurschaustellung, das „Geglitzer und die Turbulenz der Dinge“ über die Grausamkeit, wenn nicht die Sinnlosigkeit des Schicksals, über die Dummheit und die Traurigkeit des Menschen nicht hinwegtäuschen kann. Genauso wie Lautrec hat Satie es verstanden, das rein Menschliche in der Seele des Komödianten, des Artisten zum Ausdruck zu bringen. Es ist dies der Schmerz und die Selbstironie eines Mannes, der das ganze Leiden der Welt mitfühlte und stolz und stark genug war, um, als lächelnder Stoiker, als „Moralist wider Willen“, auf alles zu pfeifen. Das „Mysteriöse der Zirkuswelt“, die er nicht pastös malte, sondern pointiert zeichnete, hat Satie somit als echt musikalisches Thema aus der Taufe gehoben. Die jungen Musiker, die sich unter seiner Patronanz 1918 19 in der Gruppe der sechs zusammenfinden, haben seine Nachkommenschaft angetreten; auch H. Sauguet, der 1947 seine Ballettmusik „Les Forains“ seinem alten Meister Satie gewidmet hat. Toulouse-Lautrec ist auch nicht der einzige Maler, der die Zirkuswelt zum Thema der ernsten Kunst gemacht hat: Picasso und Rouault haben gleichfalls die „Parade“ des Menschen, unter dem Gewand des Clowns, des Artisten, des Zirkusreiters, beschrieben und ihr, je nach ihrem eigenen Genie, neue Züge verliehen. Allen diesen Künstlern ist ein gemeinsames Element zu eigen: eben das echt Menschliche ihrer Aussage.

Hinter der Fassade der Leichtfertigkeit oder des problematischen Geschmacks und trotz ihres äußeren, zusammenhanglosen Gesamtbildes, findet die „Belle Epoque“ zu einem ernsteren, geistigen Profil zurück. Toulouse-Lautrec und Satie weisen mit ihrem „sokratischen“ Kopf verblüffend ähnliche Gesichtszüge auf. Mitten aus der schillernden Fantasmagorie der „Welt von gestern“ ragen der Anglo- Normanne Satie und der verkrüppelte adelige Südfiranzose nun empor, und der Abstand der Jahre kann ihre tiefen Affinitäten nur unterstreichen.

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