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Besuch in der Pariser Oper

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„Wer ahnungslos an ihr vorbeispaziert, muß sie für einen Bahnhof halten, und kommt man hinein, meint man, sich in einem türkischen Bad zu befinden.“

Mit dieser kritisch-ironischen Beschreibung des Baues hat Debussy seinen Aerger über den bürokratischen Verwaltungsapparat und den konservativen Spielplan der Pariser Oper abreagiert. Aber das mächtige, auf einem Areal von 11.000 Quadratmetern am Schnittpunkt von fünf Avenuen liegende Prunkgebäude, das größte Opernhaus der Welt, ist nicht nur an der Inschrift „Academie Nationale de Musique et de Danse“ als solches kenntlich. Es wurde in den Jahren 1862 bis 187; von Charles Garnier erbaut, der im Auftrag Napoleons III. und der Kaiserin Eugenie das prächtigste Theater, das man je ge-

sehen hat, zu errichten hatte und dem hierfür unbeschränkte Mittel und Arbeitskräfte zur Verfügung standen. Während des Krieges 1870/71 wurde der Bau eingestellt, unter der Kommune wiederaufgenommen und schließlich von Marschall Mac Mahon, dem ersten Präsidenten der III. Republik, eingeweiht. Die Tradition des Hauses geht auf die 1669 gegründete „Academie Royale“ zurück, der die „Academie Imperiale" folgte, die schließlich von der „Academie Nationale“ abgelöst wurde. — Die Pariser Oper war immer ein Hof- und Repräsentationstheater. Sie ist es auch hei 'e noch, obwohl es, wie gerade in diesen Tagen der Historiker Pierre Gaxotte von der Academie der 40 Unsterblichen erklärte, keinen Hof mehr gibt und auch keine „gute Gesellschaft", die den Hof ersetzen könnte... Die von Crapeaux geschmückte Prunkfassade mit dem 69 Meter hohen Giebel, der „Notre Dame“ überragt, die majestätische, zehn Meter breite Freitreppe, das von Paul Baudry gestaltete Große Foyer mit seinen Malereien und Skulpturen, Kaminen und Kariatyden, erstrahlend in Gold und Kristall, schließlich der ungeheure fünfstöckige Zuschauerraum in Rot und Gold: das alles ist Ausdruck der Prunkliebe des Seconde Empire und wirkt wie von Meyerbeer inszeniert...

'Der Riesenraum bietet nur 2158 Personen Platz (gegenüber 2209 der wesentlich kleineren Wiener Staatsoper). Die Raumverschwendung ist ohne Beispiel und Nachfolge. Die Pariser Oper war eben vor allem ein gesellschaftlicher Treffpunkt der oberen Zweitausend. Aus der Blütezeit jener Gesellschaft stammt die Schilderung eines Galaabends, die Marcel Proust in der „Welt der Guermantes" gegeben hat. Die Abonnenten, die Menschen der großen Welt, „schweben in ihren Logen hinter dem in Stufen aufsteigenden ersten Rang wie in kleinen hängenden Salons, von denen nur die Vorderwand weggenommen scheint“, und die Logen der oberen Ränge wirken „wie riesige, mit menschlicher. Flo'täj bestandene Körbe, die durch die roten Bänder der mit Plüsch verkleideten Zwischenwände an die Wölbung des Zuschauerraumes angeheftet sind".

Man gab vor vollbesetztem Haus „Jeanne d’Arc au böcher“ von Claudel und Honegger in einem eindrucksvoll-mächtigen Bühnenbild von Yves Bonnat und etwas dürftigen Kostümen. Das Orchester unter Louis Fourestier schien mit dem Werk bestens vertraut, die Chöre wirkten improvisiert, das Ballett enttäuschte, trotz der Choreographie von Serge Lifar. Eine Glanzleistung bot dafür die bildschöne Claude Nollier von der Comedie Franęaise in der Titelrolle. Ihr gefälliges Kostüm freilich, blütenweiß und in dekorativen Falten fallend, mit einer ebenso dekorativen Kette, welche die neue Dior-Linie (tiefe Taille) markierte, war fern von jedem banalen Realismus; dafür hielt die im Hintergrund erscheinende „Vierge" eine lebensgroße Holzpuppe zierlich im Arm. . .

Anschließend produzierte sich das gesamte Corps de Ballet in der „Suite en b 1 a n c", Musik von Eduard Lalo, Choreographie von Serge Lifar, der mit diesem Werk eines seiner schönsten Ballette geschaffen hat. Wir sahen die „Suite en blanc“ vor kurzem in der Wiener Staatsoper, getanzt vom „Grand Ballet du Marquis de Cuevas“, und man kann sagen, daß das Pariser Opernballett den Vergleich mit diesem Spitzenensemble in Ehren bestand. Lycette Darsonval, Christiane Vaussard, Madeleine Lafon, Claude Bessy, George Skibine, Max Bozzoni und Alexandre Kalioujny heißen die Koryphäen, die, was Technik und Ausdruck betrifft. Weltklasse sind.

Das Repertoire der Pariser Oper war, durch den Geschmack der hochfeudalen und großbürgerlichen Gesellschaft bedingt, früher sehr konservativ. Einer ihrer Lieblingskomponisten war Massenet. Darüber schreibt Debussy: „Massenet scheint das Opfer des Fächerspiels seiner schönen Zuhörerinnen gewesen zu sein, die sich so beharrlich für seinen Ruhm ins Zeug legten; mit aller Gewalt wollte er Sich des Klapperns der. parfümierten Fächer erwehren; aber genau so gut hätte er versuchen können, einen Schmetterlingsschwarm zu zähmen ...“ Heute rauschen keine Fächer mehr in der Pariser Oper, und im Lauf der ersten beiden Dezemberwochen dieses Jahres standen auf dem Programm: zwei Ballettabende mit Strawinskys „Feuervogel“, „Chemin de lumiėre“ von Auric und „La tragédie de Salome“ von Florent Schmitt, Honeggers „Johanna“, „Dialogue des Carmelites“ von Poulenc nach dem Stück von Bernanps, ferner „Don Giovanni“, „Rigoletto“, „Faust“ von Gounod und „Tannhäuser“.

Den konservativeren Spielplan ha heute die „Opera Comique“, wo seit 1906 die neuesten Werke von

Bizet, Charpentier, Saint-Saens, Albeniz, de Falla, Ravel, Ibert, Delvincourt, Delannoy, Sauguet und Debussys „Pelléas" uraufgeführt wurden. — Gegenwärtig stehen auf dem Spielplan: „Hoffmanns Erzählungen", „Der Barbier von Sevilla“, „Tosca“, „Madame Butterfly“ und „Die Perlenfischer“ von Bizet, die wir in einer schönen, szenisch wenig anspruchsvollen, aber glänzend besetzten Aufführung sahen. Die auf Ceylon unter Fischer spielende Handlung, eine Eifersuchtstragödie, in deren Mittelpunkt die schöne exotische Leila i steht, wurde von Martha Angelici, Alain Vanzo, Jean Borthayre und Charles Clavensky gefällig dargestellt. Die exotischen Tänze hatte Espina Cortez einstudiert, das Orchester und die gutstudierten Chöre leitete Jésus Etschéverry.

In beiden Häusern war bester Besuch festzustellen. Trotzdem haben die französischen Staatsthcater ein gewaltiges Defizit. Von den 2,5 Milliarden Francs für das Jahr 1957 (zirka 150 Millionen Schilling) erhalten die beiden Opernhäuser 1,2 Milliarden. Davon wird nur ein Bruchteil eingespielt: Tout comme chez nous... Und alle paar Wochen streikt das technische Personal und vergrößert das Defizit. Das tut es bei uns erfreulicherweise nicht.. .

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