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Mozart am Mittelmeer

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Aix-en-Provence, die von dem Konsul Sextius gegründete römische Bäderstadt (Aquae Sextiae), war im 15. Jahrhundert unter dem „guten König Rene“ Hauptstadt der Provence und erhielt sein heutiges Gesicht im 17. und 18. Jahrhundert, als die vielen Adelspaläste gebaut wurden. Die schönsten flankieren, eng aneinandergereiht, den schattigen Cours Mirabeau mit seiner berühmten vierreihigen Platanenallee. Aix, die Heimatstadt Cezannes, liegt eine knappe Autostunde landeinwärts von Marseille und etwa ebenso nah von Arles, wo van Gogh zwei schaffenswütige Jahre verbrachte. Die brennenden Farben der hier entstandenen Bilder hat der große Maler nicht erfunden: man begegnet ihnen allenthalben, wenn man durch diese Landschaft fährt: dem Rot der Erde, dem Grüngrau der Olivenhaine, dem Violett des Heidekrauts und dem leuchtenden Gelb der Sonnenblumen.

In dieser südlichen Stadt werden seit zehn Jahren während der sommerlichen Musikfestspiele Mozart-Opern aufgeführt. Man begann 1948 auf einer improvisierten Bühne mit „Cosi ftnr.tutte-“ojiDajm folgtenm nstianme iäxrantfona

1950 „Cosi“ und „Don Giovanni“

1951 „Die Entführung“ (nebst Cimarosas „Heimlicher Ehe“ und „Das Telephon“ von Menotti)

1952 „Figaro“, „Don Giovanni“ (Glucks „Iphigenie“)

1953 „Figaro“, „Cosi“ (Rossinis „Barbier“)

1954 „Don Giovanni“, „Die Entführung“ (Gounods „Mireille“, Sauguets „Caprices de Marianne“)

1955 „Figaro“, „Cosi“ („Mireille“ von Gounod und „Orpheus“ von Gluck)

1956 „Don Giovanni“ (Rossinis „Barbier“ und „Piatee“ von Rameau)

1957 „Figaro“, „Cosi“ („Carmen“ von Bizet)..

Heuer stand neben der Reprise von „Don Giovanni“ und Rossinis „Barbier“ erstmalig „Die Zauberflöte“ in deutscher Sprache auf dem Programm, so daß das Repertoire von Aix jetzt alle „großen Opern“ Mozarts enthält.

Diese konsequente Mozart-Pflege fällt auf, und man hat sich ihr nicht von ungefähr gewidmet. Denn mehr als zu irgendwelchen anderen Werken des mitteleuropäischen Kulturkreises, fühlen sich die romanischen, insbesondere die französischen Künstler, zu Mozarts Musik hingezogen, deren südländische Komponente ja auch von der Mozart-Forschung immer wieder betont wird. Man kennt die leidenschaftlichen Bekenntnisse zu Mozart aus der Feder von Lamartine, der Frau von Stael und von Romain Rolland, von Rossini, Gounod, Berlioz, Debussy und Ravel, von dem Maler Ingres, der, ihn gleichwertig neben sein Idol Raffael stellt, und von dem Begründer einer neuen Aesthetik der Tonkunst, Ferruccio Busoni. — Wir erinnern uns auch daran, daß die französische Musikwissenschaft sehr wesentliche Beiträge zur Mozart-Forschung geliefert hat, und ein soeben erschienenes, über 700 Seiten umfassendes, hochbedeutsames Werk („La Pensee de Mozart“ von Jean-Victor Hoquard, Editions du Seuil, Paris) setzt diese Tradition fort.

So ist also der französische Mozart-Kult nicht von heute oder gestern, und man versteht, daß Aix nach zehn Jahren ambitionierter und erfolgreicher Mozart-Pflege sich als die französische Mozart-Stadt fühlt. — Und wer einmal unter dem nachtblauen Himmel der Provence einen „Figaro“ oder einen „Don Giovanni“ erlebt hat, wie da, wenn sich der Vorhang in dem zum Freilichttheater umgewandelten Hof der Erz-abtei hebt, Bühne und Umwelt ineinander übergehen, der wird die Gefühle der Veranstalter für „ihren Mozart“ verstehen. — Mit der „Zauberflöte“ freilich hat es eine besondere Bewandtnis, und fast rührend mutet der Versuch an, auch sie zu „assimilieren“, indem man sie mit pariserischer Eleganz ausstattet und den pro-venzalischen Heimatdichter Jean Giono zu einer Einführung in das Werk in dem prunkvollen Programmheft bemühte.

Im gleichen Heft, dem alljährlich erscheinenden Festspielalmanach des „Festival de musique d'Aix-en-Provence“, finden wir unter dem Titel „Amours d'Aix“ einen ausführlichen Artikel von Yves Florenne, aus dem einige Sätze in freier Uebertragung zitiert seien: „Diese Stadt, die ein Traum ist von Liebe, Musik und Theaterspiel, sie war Mozart von allem Anfang an verheißen. Sie ist leicht und tief, sinnlich und ernst, kühl und glühend, dabei rhythmisch gegliedert, alles ist Maß und Ordnung — oder von jener .Unordnung', die das Ergebnis des Genies oder der Leidenschaft ist. — Nach so vielen Städten, die er eroberte, deutschen und flämischen, englischen, italienischen und böhmischen, hätte Mozart vielleicht diese, die provenzalische, die er nie gesehen hat, vor allen anderen geliebt. Diese liebliche und melodische Stadt, hat sie unser Cherubin-Don Juan vielleicht im Traum ersehnt? Aber erst jetzt, endlich, gehört sie ihm. Salzburg, wir wissen es, hat er nicht geliebt, am wenigsten den erzbischöflichen Hof. Darf man sich daher nicht vorstellen, daß er sich hier glücklicher, freier gefühlt hätte? Und auf welch wunderbare Weise ist er hier gegenwärtig! Er ist hier, ganz nahe bei uns, im Herzen des Sommers. Sein musikalischer Schatten schweift durc'i die Gassen, die Höfe und die freien Plätze, mitten zwischen anderen Schatten, der Toten und der Lebenden, die sich zu einer kleinen oder großen Nachtmusik begeben. Er schweift umher, folgt unseren Schritten, bleibt stehen, stützt sich auf eine Balustrade, einen Brunnenrand, träumt und murmelt jene ängstliche Frage, die immer wieder über seine Kinderlippen kam, bevor sie das Herz des Mannes quälte: Hast du mich lieb? Liebst du mich wirklich? Und diese ganze französische Stadt ist eine einzige zärtliche und bereitwillige Bejahung...“

Poetische Phantasien? Mehr als das. Denn die Mozart-Aufführungen von Aix haben ein beachtliches Niveau. Das „Don-Giovanni“-En-semble setzte sich folgendermaßen zusammen: Antonio Campo, Mario Spina, Rolando Panerai, Giorgio Jadeo, ,Jjrnst.,Wiemann, Teresa ..Stjqji-.:RandalIj-XTOuelfcRubio.'and; Mariella, Adäftfe n Hans Rosbaud war der Dirigent der von Jean Meyer geleiteten und von A. M. Cassandre ausgestatteten Aufführung. — In der „Zauberflöte“, die von Jean-Pierre Grenier inszeniert, von J. D. Malcles ausgestattet und von dem in Mailand lebenden Rumänen Jonel Perlea dirigiert wurde, wirkten mit: Fritz Wunderlich, Walter P-erry, Mimi Coertse, Teresa Stich-Randall, J. Ch. Benoit, Giorgio Tadeo, Ernst Wiemann, Sylvia Stahlmann u. a.

Neben „seinem“ Mozart pflegt Aix seit Jahren vor allem die Moderne. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit dem Orchester des Südwestdeutschen Rundfunks unter der Leitung von Hans Rosbaud. — Bei einem Strawinsky-Fest-konzert (mit dem „Divertimento“, dem „Violinkonzert“ und dem „Sacre du printemps“) konnte man die ahs Wunderbare grenzende Akustik des großen, etwa 2500 Personen fassenden Klosterhofes von Saint-Louis bewundern. — Werke von Roussel, Bartök, Schönberg, Dallapiccola, Henze und Boulez wurde im Hof des „Hotel du Maynier d'Oppede“ und im alten Hoftheater von Aix gespielt. Vor einem Publikum, das — nachdem es Mozart „genossen“ hat — wissen möchte, wie es nun in der Musik weitergeht, und das dem Schöpferischen des Genius Mozart die schönste Reverenz macht: indem es sich dem Schöpferischen der eigenen Zeit ohne Vorurteil aufgeschlossen erweist.

„Glückliches Aix“, denkt der Gast aus dem Norden. .. Denn man hat hier weder Programm- noch Wettersorgen. Sämtliche Veranstaltungen finden im Freien statt, und auf die besorgte Frage, was denn geschähe, wenn es regnete, bekommt man die lapidare Auskunft: „Es regnet nicht!“ Und in der Tat kann man, unter den hunderten Aufführungen, die während der letzten zehn Jahre hier stattgefunden haben, die verregneten oder durch einen plötzlich hereinbrechenden Mistral gestörten an den Fingern einer Hand aufzählen.

Vielleicht hätte, wie die Franzosen meinen, Mozart diese Stadt geliebt. Ob er freilich, zu seinen Lebzeiten, dort verständnisvollere Gönner gefunden hätte als anderswo, ob er vielleicht länger gelebt hätte und was in dieser Berührung mit dem Süden angeregt worden wäre, darüber meditiert man lang und ergebnislos, während das Orchestre du Conservatoire aus Paris unter einem rumänischen Dirigenten spielt und Sänger von der Wiener Staatsoper das tiefsinnge orientalische Zaubermärchen auf der Bühne agieren.

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