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Wie man Furcht abreagiert

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Mozart bezeichnete „Die Entführung aus dem Serail“ im Untertitel als Singspiel in drei Akten. Aber er hat mit diesem Werk viel mehr geschaffen. In der Charakterisierung der einzelnen Personen, im Naturalismus der Schilderung von Liebesseufzern, Herzklopfen, angstvollem Gliederschlottern und anderer Gefühlsregungen geht seine Musik weit über das hinaus, was im deutschen Singspiel bisher geboten war. .Jede Nation hat ihre Oper — warum sollen wir Teutsche sie nicht haben? Ist die teutsche Sprache nicht so gut singbar wie die französische oder englische?“ — Eine rhetorische Frage, wenn man das Italienische ausläßt und wenn Mozart die Worte in Musik setzt...

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Mozart bezeichnete „Die Entführung aus dem Serail“ im Untertitel als Singspiel in drei Akten. Aber er hat mit diesem Werk viel mehr geschaffen. In der Charakterisierung der einzelnen Personen, im Naturalismus der Schilderung von Liebesseufzern, Herzklopfen, angstvollem Gliederschlottern und anderer Gefühlsregungen geht seine Musik weit über das hinaus, was im deutschen Singspiel bisher geboten war. .Jede Nation hat ihre Oper — warum sollen wir Teutsche sie nicht haben? Ist die teutsche Sprache nicht so gut singbar wie die französische oder englische?“ — Eine rhetorische Frage, wenn man das Italienische ausläßt und wenn Mozart die Worte in Musik setzt...

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Der Text stammt von Gottlieb Stephanie dem Jüngeren, der das Libretto nach einem Stück des Leipziger Handlungsbuchhalters Christoph Friedrich Bretzner einrichtete. Besagtes Stück war ein Jahr vorher von einem gewissen Johann Andre vertont worden, und Bretzner war mit Mozarts Partnerschaft absolut nicht einverstanden. Daher ließ er folgende Erklärung veröffentlichen: „Ein gewisser Mensch namens Mozart, in Wien, hat sich erdreistet, mein Drama „Belmont und Constanze“ zu einem Operntext zu mißbrauchen. Ich protestiere hiermit feierlichst gegen diesen Eingriff in meine Rechte und behalte mir Weiteres vor. Christoph Friedrich Bretzner, Verfasser des ,Räuschchens'.“ — Aber der Protest kam zu spät. Kurz bevor Mozart die Musik zur „Entführung“ schrieb, hatte er seinen Dienst beim Salzburger Erz-bischof quittiert und dem Vater die Stirn geboten: Gegen dessen Willen hatte er sich entschlossen, Constanze Weber zu heiraten. Nun fühlte er sich frei und am Anfang eines neuen Lebensabschnittes stehend. So wurde „Die Entführung“ ein bühnendramatisches Bekenntndswerk, das aus der hoffnungsvoll-beglückten Stimmung eines Liebenden geschaffen war und einen wichtigen Punkt in der Reihe von Mozarts Opernschöpfungen markiert, die 1767 mit „Apoll und Hya-cinthus“ begann, in „Figaro“ und „Don Giovanni“ (1786 und 1787) kulminierte und mit „Titus“ und der „Zauberflöte“ von 1791 endete. Kurz der Inhalt: Einem edlen Spanier, Belmonte Lostados, haben Seeräuber die Braut entführt und diese, zusammen mit der Zofe Blondchen und dem Diener Pedrillo, an einen türkischen Bassa verkauft. Belmonte sucht sie und findet zunächst seinen Diener wieder, der jetzt als Gärtner dem Bassa dient. Belmonte läßt sich als Baumeister in den Palast des Bassa einführen, doch der Aufseher Osmin, der die hübsche Zofe begehrt, obwohl er die Christen nicht leiden mag, erfährt von der geplanten Befreiung, der Entführung aus dem Serail, und vereitelt das Entweichen der Paare. Bassa Selim, der früher einmal Spanier war, erkennt in Belmonte den Sohn seines einstmaligen Todfeindes wieder, der ihn aus dem Vaterland vertrieben hatte. Trotzdem verzeiht er und schenkt allen die Freiheit. Dies ist die „Rache“ des Muselmans, welche die Handlung versöhnlich beschließt. *

Diese im 16. Jahrhundert auf dem Landgut des Selim Bassa spielende Geschichte war, als Mozart sie vertonte, im höchsten Grade aktuell. 1683 waren die Türken vor Wien gestanden, und seither zitterte der Westen davor, daß sie diesen Versuch wiederholen könnten. Bereits 1764 hatte Gluck in den „Mekkapilgern“ den Serail auf die Bühne gestellt. Der Sultan von Ägypten hieß Ali, sein Sklave Osmin. 1775 hatte Joseph Haydn in „L'Incontro Improviso“ einen ähnlichen Stoff gestaltet und darin osmanische Sitten geschildert. Nun, knapp 100 Jahre nach der Türkenbelagerung, fürchtet man, daß die Politik Josephs II. einen neuen Türkenkrieg entfesseln könnte, vor allem durch sein Bündnis mit der Zarin Katharina IL, denn Rußland stand im Kampf mit der Pforte, und ein Besuch des Großfürsten Paul wurde in Wien erwartet. Eigens für diesen Besuch war Mozarts Singspiel bestellt worden. Und nicht besser hätte man nach der Meinung mancher den 100. Jahrestag der Schlacht um Wien begehen können, als indem man die Türken über den Bosporus zurücktrieb. — Sechs Jahre später (1788) sang der friedliebende Menschenfreund und Freimaurer Mozart: „Ich möchte wohl der Kaiser sein, den Orient wollt ich erschüttern, die Muselmänner müßten zittern, Konstantinopel wäre mein.“ Da es aber keine kriegerische Lösung gab, begnügte man sich damit, seine Angst mit der „Entführung“ und ähnlichen Werken auf friedliche Weise abzureagieren.

Es gab aber noch einen linderen Aspekt, eine andere Tendenz in den Türkenstücken: Ludwig XIV. von Frankreich war 1683 mit den Türken verbündet. Dies sollte den Franzosen und den anderen europäischen Völkern mundgerecht gemacht werden. So entstand eine Reihe von Stücken über großmütig-humane Orientalen, die Böses mit Gutem vergalten, ihre Sklaven entlassen und anderes mehr. Mozarts Bassa Selim ist übrigens auch der Vetter zweier anderer östlicher Barbaren: des Lessingschen Sultan Saladin (1799) und des Thoas in Goethes „Iphigenie“ (1787).

Doch zurück zu Mozarts „Entführung“: Am 7. Mai 1782 hatte er der Gräfin Thun den zweiten Akt vorgespielt, am 30. Mai den dritten Akt, am 3. Juni war die erste Probe und Dienstag, den 16. Juli, fand im Nationaltheater mit Katharina Cavaliere als Constanze, Valentin Adamsberger — Belmonte und Ludwig Josef Fischer — Osmin die Premiere statt. Leider ist Mozarts Bericht darüber verlorengegangen. Erst über die zweite Aufführung am 19. Juli schrieb er, daß es „Kabalen“ gegeben hätte und der ganze erste Akt „verzischt“ worden sei. Immerhin konnte am 10. Dezember die 14. Aufführung stattfinden. Das nützte Mozart aber wenig, denn er erhielt als Honorar die üblichen 100 Dukaten. — Am 19. Oktober 1782 ist der russische Hof wieder abgereist. „Letzthin wurde ihm meine Oper gegeben“, vermerkt Mozart, und er selbst leitete die Aufführung, „teils um das ein wenig in Schlummer gesunkene Orchester wieder aufzuwecken, teils um mich den anwesenden Herrschaften als Vater von meinem Kind zu zeigen.“

Als bei der zweiten Wiener Aufführung das Schlußterzett des ersten Aktes nicht wiederholt wurde, schrieb Mozart: „Ich war so in Wut, daß ich mich nicht kannte“, denn Mozart wollte auf der Bühne den Erfolg. Er liebte diese „geheimnisvolle und sonderbare Anstalt“, wie Goethe das Theater einmal nannte, und er komponierte fiebernd, die erleuchtete Bühne vor Augen. So gelang es ihm auch, den Stoff der Welt dichterisch zu verzaubern und aus einem Operntext das Werk seiner Phantasie zu machen. Ähnlich wie Shakespeare als Dichter gelingt ihm als Musiker die Verbindung: Lyrik und grotesker Humor. Er wirft auf die Welt, in der Ernst und Scherz, tragische und komische Motive so eng verbunden sind, jenen Blick von oben, der alles umfaßt und begreift.

„Die dramatische Idee in Mozarts Operntexten“ (dies ist der Titel eines Büchleins aus der Feder des Begründers der Marburger Philosophenschule Hermann Cohen, das während des ersten Weltkrieges erschien) ist die Liebe in Verbindung mit dem sittlichen Prinzip. In der „Entführung“ manifestiert sich die Schönheit und Reinheit dieses Gefühls zugleich mit Humor, Innigkeit und Schwärmerei. Mozart, der derbe erotische Spaße liebte, gern „Unsinniges“ sprach und aufschrieb, sah und gestaltete als Künstler durchaus idealisch. Alles Grob-Erotische und Possenhafte reagierte er in Briefen und Gelegenheitsarbeiten ab. In die Musik läßt er davon nichts eindringen. Über die „Wut-Arie“ des Osmin — übrigens eine der prallsten Gestalten des Welttheaters seit Shakespeare — schrieb er: „Weil aber die Leidenschaften, heftig oder auch nicht, nie bis zum Ekel ausgedrückt sein müssen und die Musik auch in der schaudervollsten Lage das Ohr niemals beleidigen darf, sondern allzeit Musik bleiben muß, so habe ich keinen fremden Ton zum F der Aria, sondern einen befreundeten, nicht den nächsten, sondern das verwandte a-minore gewählt.“

Es gibt auch viele interessante, nur tiefenpsychologisch erklärbare Stellen in dieser Partitur. Die Marterarie der Constanze war nicht nur „für die geläufige Gurgel der Cava-lieri“ geschrieben, sondern enthüllt auch, was Selim Bassa, der ja eine Sprechrolle hat, nicht heraussingen kann und darf: dieses angestaute Verlangen, seine „wortlose Grausamkeit“, löst bei Constanze einen melodiösen Hysterieausbruch aus. Daher ihre merkwürdigen Koloraturen. — Überhaupt sind Mozarts Koloraturen nicht Ornament, sondern etwas Elementares, Expressives.

Auf einige besonders brillante Nummern dieser Partitur sei verwnsen, deren Pallette von Pedrillos Romanze, einem Mandolinenstück in der Art Gretrys, über das Quartett vor der Flucht bis zum Schlußcouplet reicht, wo es Mozart gelingt, in einem Strophenlied fünf grundverschiedene Menschen in einer einzigen, und zwar der gleichen Melodie sich nacheinander „aussingen“ zu lassen. Man müßte den vollständigen Text hersetzen, um das zu exemplifizieren.

Schließlich noch ein Wort über den „exotischen Charakter“ der Musik, die von Mozart kreierte „türkische Atmosphäre“, das Lokalkolorit der Musik. Er erzielte den beabsichtigten Effekt vor allem durch die Instrumentierung mit Piccoloflöte, Triangel, Tschinellen, Pauken und großer Trommel wie später Beethoven und Schubert in einigen ihrer Marschsätze. In der Melodik sind weder türkische noch arabische Elemente nachzuweisen. Zwar hatten sowohl Friedrich II. wie auch Joseph II. und seine Mutter Militärkapellen, die „Janitscharenmusik“ spielten. Aber die Janitscharen waren nicht Türken, sondern unterworfene Balkan-christen, die mit Gewalt zum Islam bekehrt worden waren. Zu Glucks, Haydns und Mozarts Zeit war noch nichts original Türkisches in den Westen gedrungen, man folgte vielmehr, wenn man orientalische Musik machte, einem internationalen Con-venu. Mozart hat diese Effekte — wie 100 Jahre vor Bizet das Spanische in „Figaro“ — sehr bewußt eingesetzt. In der Ouvertüre zum Beispiel läßt er Forte und Piano miteinander abwechseln, wobei beim Forte die türkische Musik einfällt. „Ich glaube, man wird dabei nicht schlafen können“, schreibt er. — Nein, schlafen kann man bei dieser ganzen Oper nicht. Dazu ist sie zu abwechslungsreich, zu geistvoll, zu schön und zu originell...

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