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„Carmen” am Mont Ste. Victoire

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Die musikalische Bilanz des heurigen (zehnten) Festivals von Aix-en-Provence läßt doppelten Gewinn aufscheinen. Er liegt einmal in dem erneuten Eindruck vorzüglichster Mozartpflege. repräsentiert durch Wiedergaben von „Figaro” und Cosi fan tutte” auf der Bühne der Archevėchė; sodann in der Erweiterung des Festivals nach der Seite echt provenęalischen Theaters hin: in der „Carmen”- Aufführung und dem für sie neu geschaffenen Naturtheater am Fuße des Mont Ste. Victoire, dem Berge Cėzannes.

Das „F i g a r o”-Ensemble, gegenüber 1955 zum Teil neu besetzt — zu Stich-Randall, Panerai, Cortis, Sėnėchal traten neu: Gratiella Sciutti, Mariella Adani und Antonio Campi —, ergab unter H. Rosbauds musikalischer Leitung und auf dem nuancenreichen Szenengrunde Sarrazins und Claves trefflichste und harmonischeste Leistung. Es darf dieser heurige Mozartabend als „bestes Aix” bezeichnet werden. Nach wie vor — das wurde damit erwiesen — ist in seinen lateinisch getönten Interpretationen Mozarts wesentlichste Verkörperung wie Wert des Aixer Festspielgedankens zu sehen.

Wenn die Aura der modernen Musik in diesem Jahre verblaßte und die Fülle gediegener Konzerte sich auf Klassisches wie speziell Französisches beschränkte (Konzerte der Orchester Pasdeloup und des Conservatoire unter H. Rosbaud, Szolti, Giulini, Vartdernoot, Pretre, des Toulouser Kammerorchesters unter L. Auriacombe, des Münchner Pro-Arte- Orchesters unter K. Redel, dazu Soloabende von Th. Stich-Randall, M. Sėnėchal und Klara Haskil), so erwies sich um so notwendiger,, einen zweiten Festivalschwerpunkt zu schaffen. Das Problem schwelte seit Jahren, da sich die Mozartinterpreta- tionen auf der Bühne, so trefflich sie sind, auf „Figaro”, „Entführung”, „Don Giovanni”, „Cosi fan tutte” beschränkt sehen — wozu gewiß Werke von Gluck, Rameau, Cimarosa, Rossinis „Barbier” und auch einige moderne traten. Dieser neue Schwerpunkt konnte nur im mediterranen Werkbereiche liegen bzw. im sozusagen „provenęalischen Theater”, Man könnte sich wohl denken, daß Aix hervorragend dazu berufen wäre, in einem neu zu errichtenden Amphitheater Werke der Antike in modernem Musikgewande (wie Strawinskys „Oedipus Rex”, Orffs „Antigone” und andere mehr) zu spielen I Man würde dies, von Mitteleuropa aus gesehen, als höchst sinnvoll begrüßen. Die Festspielleitung hat in Verfolg der Linie des kühnen „Mireille”-Versuches (1954) den Weg des naturalistischen provenęalischen Theaters gewählt und für die heuer zunt ersten Male gegebene „Carmen” eine Freilichtbühne von außerordentlicher Schönheit und Stimmung auf dem Grunde des Schlosses Tholonet errichtet, die den gewaltigen Abhang des Mont Ste. Victoire mit einbezieht und — etwa in der Schmugglerszene — mit Beleuchtung und Beteiligung dieses abstürzenden Fels- und Waldgeländes am Geschehen wahrhaft grandiose Bilder bietet. Kritiken an der farbvollen und belebten Inszenierung L P. Greniers und Fr. Ganeaus mögen in Einzelheiten nicht ganz von der Hand zu weisen sein. In summa aber darf man urteilen: das Experiment ist gelungen. „Carmen” mit Jean Madeira von überragender Leistung in der Titelrolle und unter P. Dervaux’ impetuoser musikalischer Leitung war ein Ereignis und ein Gewinn für das Festival, das sich mit diesem Unterfangen für das zweite Dezennium seines Bestandes — neben der Mozartpflege — ein weiteres Feld eindringlichster Wirkung eröffnet hat.

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