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CLAUDE DE FRANCE

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Zum 100. Geburtstag Debussys am 22. August 1962

Claude de France“ nannte ihn nach Vollendung des gemeinsamen Werkes „Le Martyre de Saint-Sebastien“ der Dichter Gabriele d'Annunzio. Und „Musicien francais“ steht auf dem einfachen Grabstein auf dem Friedhof von Passy, wo Debussy gemeinsam mit seiner Frau und seinem TöcfTterchen Chouchou, die ihren Vater nur um ein Jahr überlebte, begraben liegt. Und doch war dieser typisch französische Musiker ein Künstler von europäischem Rang, mehr noch: eine säkulare Erscheinung, durch dessen Werk die gesamte europäische Musik nachhaltig beeinflußt und bis auf den Grund verändert wurde.

A ber Debussy war keineswegs ein Revolutionär, und schon gar ** - nicht eine faustische oder prometheische Natur. Die Lösung der Menschheitsprobleme überließ er anderen, Wagner zum Beispiel. Er selbst sagt von sich, er habe „ganz einfach seine Natur und sein Temperament sprechen lassen“. Diese „Natur“ freilich war die allersensibelste und aristokratischeste. Dem Temperament nach gehörte Debussy zum „irrascibile genus“ und war von Jugend auf von einem Unabhängigkeits- und Freiheitsbedürfnis beseelt, das ihm verbot, auch nur ein Jahr lang in irgend jemand-des Dienst zu stehen. Außer in dem seiner Kunst, die er auf die gewissenhafteste Weise und mit peinlicher Akkuratesse übte, unermüdlich feilend, formend oder korrigierend, bis genau jene Klangvorstellung realisiert war, um derentwillen er zur Feder gegriffen hatte. Auch darin, in diesem stetigen höchsten Anspruch an die eigene Leistung, erweist sich der Aristokratismus seines Wesens — und seines Werkes.

Dabei stammt Debussy aus einfachsten Verhältnissen, ist kleiner Leute Kind. Seine Vorfahren waren durchweg Bauern, Handwerker, Arbeiter. In Saint-Germain-en-Laye, wo Debussy am 22. August 1862 geboren und auf den Namen Claude-Achille getauft wurde, hatten seine Eltern ein Keramikgeschäft. Von der Mutter .sind überhaupt keinerlei künstlerische Neigungen bekannt, vom Vater, der mit seiner Familie bald nach Claudes Geburt nach Paris übersiedelte und bis zum Ende seines kleinbürgerlichen Lebens Buchhalter einer privaten Eisenbahngesellschaft war, heißt es, er habe „die Musik geliebt“; eine sehr vage Aussage. Eigentlich ist nur seine Begeisterung für „Die Regimentstochter“ bezeugt, in die er den Sohn mitnahm. Und bezeugt ist auch, daß er der Ausbildung des musikalischen Talents des jungen Claude-Achille, das von einer Tante entdeckt wurde, keine Hindernisse in den Weg legte.

Den ersten Klavierunterricht empfängt Claude bei Verwandten in Cannes; nach Paris zurückgekehrt, nimmt sich eine ältere Dame seiner an, die noch bei Chopin gelernt hatte — und deren Tochter vorübergehend die Frau eines vom jungen Debussy hochverehrten Dichters war: Paul Verlaines. Mme. de Fleur-ville betreibt Debussys Eintritt ins Conservatoire. Mit elf Jahren besteht er die Aufnahmeprüfung und besucht zunächst die Klassen der berühmten Lehrer Marmontel und Lavignac. — Hier widersetzt er sich mit sanfter Gewalt jedem Zwang und den akademischen Regeln. Trotzdem erhält er 1884 den sehr begehrten Rom-Preis (für eine Kantate), denn er vesteht es, auch die orthodoxesten seiner Lehrer durch den Charme seiner Modulationen und die Originalität seiner Lösungen zu besänftigen. — Er darf also für zwei Jahre in .die Villa Medici. Aber er empfindet Rom als Verbannung: „Meine gute Stimmung war fort. Ich sah ganz deutlich vor mir, was mich in Rom erwartete: die Langeweile und die Plackerei“, schreibt er später. Debussy kann nur in Paris leben und komponieren. So benützt er die erstbeste Gelegenheit zur Flucht.

Inzwischen hatte sich Debussys Geschmack immer mehr verfeinert, sein „Dandysmus“ immer stärker ausgeprägt. Der Knabe sammelte Schmetterlinge, Nippsachen, zierliche Holzschnitte. Jetzt sind es Kunstgegenstände, besonders japanischer Herkunft: Lackarbeiten, Keramiken, Stiche, Kimonos. Über seinem Schreibtisch in Paris, wo er — weit vom Meer entfernt — das bedeutendste seiner Orchesterwerke beendet, das symphonische Tri-ptychon „La Mer“, hängt Hokusais „Woge“. Mit einer fast femininen Reizempfindlichkeit ausgestattet, Hebt er das Hochverfei-nete, Seltene und Raffinierte. Auf alles Grobe, Simple und Direkte reagiert er mit einem wahren Horror. Wie im Leben, so meidet er auch in seiner Kunst Schwall und Pathos, das Lautstarke und das Vulgäre. Durch diese seine sehr ausgeprägten Sympathien und Antipathien korrespondierte Debussy mehr mit den zeitgenössischen Pariser Malern und Dichtern als mit seinen Musikerkollegen. Frühzeitig hatte er herausgefunden, welche von den zeitgenössischen Künstlern von seiner Art waren. Die Namen der von Debussy verehrten Dichter finden wir fast vollzählig in seinem Werkverzeichnis als Autoren von Liedern, Kantaten und Bühnenwerken: Bourget, Verlaine, Baudelaire, Mallarme, Pierre Louys, Maeterlinck und d'Annunzio. Von den Malern schätzte er besonders Renoir, Manet, Degas und Whistler.

Aber während viele seiner Künstlerfreunde in künstliche Paradiese flüchten, bewahrt sich Debussy eine ebenso naive wie leidenschaftliche Liebe zur Natur. „Man lauscht nicht auf die tausend Geräusche der Natur, die uns umgeben“, sagte er einmal, „man ist nicht geöffnet gegenüber dieser so vielfältigen Musik, die uns die Natur in einer solchen Fülle darbietet. Diese Musik umgibt uns, und wir haben mitten in ihr bis heute gelebt, ohne davon Kenntnis zu nehmen. Hier ist, nach meiner Meinung, der neue Weg!“ Diesen Eindrücken ist Debussy in fast medialer Weise geöffnet. Wie bei keinem Komponisten vor und keinem nach ihm, bis in unsere Tage, hören wir die Natur aus der Musik. „Impressionismus“ ist für dieses merkwürdige, geheimnisvolle Phänomen nur ein armseliges Wort aus der Gelehrtenküche. Debussy, dieser stille, meditative Mensch, früh von Melancholie beschattet, mit dem fast olivfarbenen Teint, den nachtdunklen Augen und den sehr gemessenen, fast trägen Bewegungen, ist selbst ein Stück Natur. Daher sucht ^er nicht, ihr Wesen zu ergründen, sondern begnügt sich mit cer schillernden Oberfläche, dem unablässigen Wechsel des Lichts, der Farben und der Geräusche. Ein Vers aus dem Gedicht „Correspondances“ von Baudelaire charakterisiert Debussys Musik besser als alle gelehrten Analysen: „Les parfums, lei couleurs et les sons se repondent.“

TAie Konzertsaal- und die Opernmusik, wie sie vor ihm und von seinen Zeitgenossen hergestellt wurde, interessiert ihn nicht sehr. In seiner Jugend pilgert Debussy nach Bayreuth und besucht Brahms. Bach und Mozart hat er verehrt, Chopin geliebt. Die ganze deutsche Musik sowie die Wiener Klassiker bedeuten ihm nicht viel, trotz eines „Hommage ä Haydn“ aus dem Jahr 1909. Und was er den von ihm erfundenen Monsieur Croche über die klassische Symphonieform sagen läßt, liest sich spaßig und kurios, ist aber sehr ernst gemeint. Als Klavierlehrer im Haus von Nadeshda Filaretowna von Meck, der bekannten Tschaikowskyj-Freundin, lernt er nicht nur die Partitur des „Boris“ /von Mussorgsky kennen, sondern auch Werke von Rimsky-Korssakow, Borodin und Balakirew, ohne sich ihrem Einfluß zu entziehen. Aber sein Herz geht erst auf, als er, während der großen Pariser Weltausstellung von 1889, fernöstliche Musik hört und Theaterstücke aus China, Japan und Java sieht. Besonders haben es ihm die volltönenden Gamelanorchester angetan, das raffinierte und hochdifferenzierte fernöstliche Schlagzeug aus Tamtams, Bambusstäben, winzigen Becken, vielerlei Glocken, Rasseln und Zimbeln. Wenn er den komplizierten Kontrapunkt dieser „Primitiven“ mit dem Schlagwerk unseres normalen Symphonieorchesters vergleicht, so muß ihm das letztere wie barbarischer Zirkuslärm vorkommen. Von allen Einflüssen, die Debussy erfahren hat, ist dies der wichtigste.

Und Debussy war in Solesmes, wo er, mit Noten ausgerüstet, den Morgenfeiern und den Laudes beiwohnte, aufmerksam die Gesänge der Mönche verfolgte und die Orgelzwischenspiele zu notieren versuchte. Das hat erst vor kurzem (1950) Julia d'Almendra auf Grund von Berichten englischer Musikforscher (Dr. Becket Gibbs und Eliot Wheaton) nachgewiesen. — In seiner letzten Schaffensphase wandte sich Debussy älteren französischen Meistern zu. Er vertone Texte von Charles d'Orleans, Tristan l'Hermite und Francois Villon. In mehreren Klavier-werken huldigt er den französischen Clavicinisten des 18. Jahrhunderts, bekennt sich in den „Six Epigraphe antiques“ zum klassischen Schönheitsideal und schreibt, schwer krank, im vorletzten Winter, den er erlebte, statt der geplanten „Ode ä la France“ das ergreifende „Weihnachtslied der Kinder, die kein Haus mehr haben“. Debussy stirbt am 25. März 1918, während deutsche Geschütze Paris bombardieren.

Da man seinen 100. Geburtstag feiert und efsf 44 Jahre seit seinem Tod vergangen sind, ist Debussys Werk, diese feinste und sensibelste Musik, die je geschrieben wurde, Weltbesitz geworden. In allen Musikzentren zwischen New York und Tokio wurden in diesem Debussy-Jahr seine Kompostionen vor vielen Millionen Menschen gespielt und von Presse und Rundfunk ausführlich gewürdigt: Angefangen von dem ersten Meisterwerk, dem 1892 vollendeten „Prelude ä l'apres-midi d'un faune“ über die beliebten „Nocturnes“, „Iberia“, „La mer“, die 24 Preludes, die vielen Lieder, das Streichquartett und die Violinsonate bis zu den beiden Bühnenwerken „Pelleas et Meli-sande“ und „Le Martyre de Saint-Sebastien“.

Und Debussys Musik hat — so wenig das in der Absicht ihres Schöpfers war — Schule gemacht, so daß Andre Mauroi in seinem Roman „Die Fabrik“ eine der Hauptpersonen behaupten lassen kann: „Die ganze moderne Musik stammt davon abl“

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