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Programm-Musik und klassische Form

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Die Konzerte des Pariser Colonne-Orche-sters unter seinem Dirigenten Paul Paray ließen — mit der Aufführung der Programm-Ouvertüre „Römischer Carneval“ und den Fragmenten aus der Konzertoper „Fausts Verdammnis“ von Berlioz — ein Stück Musikgeschichte lebendig werden. War es doch das 1873 von Eduard Colonne gegründete Orchester „Concert National“, das — nach Berlioz Tod — immer wieder die Werke dieses Meisters aufführte und ihnen schließlich zu allgemeiner Anerkennung verhalf.

Auf dem Gebiete der Programm-Symphonie und der symphonischen Dichtung hatte Berlioz in Frankreich mehrere Vorgänger. Die realistische Geistigkeit der Franzosen spiegelt sich bereits im 16. Jahrhundert in den Chansons von Jannequin und, 200 Jahre später, im Klavierstil Couperins. Lesueur, der Hofkapellmeister Napoleons, vertrat die „motivische und imitative Musik“ literarisch-polemisch und wandte seine Theorien auch auf Orchesterwerke und Oratorien an. Hier knüpft Hector Berlioz an: als Theoretiker, als Orchesterpraktiker und als Tondichter. Gleichzeitig glaubte er, in der von Beethoven mit der Pastoral-Symphonie eingeschlagenen Richtung weiterschreiten zu \ können. Beethoven hatte aber selbst seiner Pastorale die Anmerkung „Mehr Ausdruck der Empfindung, als Malerei“ mit auf den Weg gegeben und damit ihren programmatischen Charakter weitgehend eingeschränkt. Auch hat er durch die hohe Kunst seiner Stilisierung eine vollkommene Synthese zwischen deskriptiven und symphonischen Elementen erreicht. Berlioz' Musik ist intellektuell konzipiert; die „Idee“ steht im Vordergrund. Sie muß vom Hörer erfaßt werden, denn erst dann kann er die Musik Berlioz' ganz verstehen und genießen. Da Berlioz trotzdem trachtet, an der symphonischen Form festzuhalten, entsteht ein Mittelding, ein Zwitter aus Programmatischem und Symphonischem, und nur die geniale Musikerpersönlichkeit Berlioz' läßt uns dies zuweilen vergessen. All das hindert uns aber nicht, in ihm den großen Melodiker und Neuerer auf dem Gebiet der Orchestertechnik w Eew uniern. In seinem Vaterland konnte er sich- 2u seinen Lebzeiten nicht durchsetzen. Die“ ersten großen Erfolge errang er auf den Kunstreisen 1843 bis 1847 in Deutschland, Österreich und Rußland. 1845 dirigierte Berlioz drei Konzerte im Theater an der Wien nnd 1866 im Redoutensaal eine Aufführung von „Fausts Verdammnis“, mit der er seiner Kunst nicht nur neue Freunde, sondern auch Schüler und Gefolgschaft warb.

Etwa zehn Jahre nach dem Tod des Meisters begann in Frankreich eine Berlioz-Renaissance, die vor allem auf die zyklische Aufführung seiner sämtlichen Werke durch das Colonne-Orchester zurückzuführen ist. Es entsprach daher der Tradition dieses ausgezeichneten Orchesters, den Großteil seines Programms den Werken von Berlioz zu widmen. Die nach Motiven der Oper „Ben-venuto Cellini“ komponierte Konzertouvertüre „Römischer Carneval“ und Bruchstücke aus „Fausts Verdamm-n i s“ vermittelten ein eindrucksvolles Bild der Berliozschen Kunst. Nino Vallin von der Pariser Oper sang zwei Gretchen-Lieder und bewies, daß ihre hervorragend schöne unri kangvolle Stimme dem lyrischen und dramatischen Ausdruck gleichermaßen gerecht zu werden vermag. Paul P a r a y, der im Laufe dieser Spielzeit eines der erfolgreichsten Konzerte der Philharmoniker geleitet hat und einen nachhaltigen Eindruck hinterließ, bewährte sich auch in diesem Konzert als ausgezeichneter und energischer Orchesterdirigent und Berlioz-Interpret. Technische Exaktheit und temperamentvolle Darbietung, Herausarbeitung kleinster Details und Klarheit des Aufbaues zeichnen seine Interpretation aus.

Die d-fnolI-Srmphonie Ton Cesar Fr anck scheint aus einer anderen Welt zu stammen. Franck, in Belgien geboren und von 1872 bis 1890 Professor für Orgel am Pariser Konservatorium, war lange Zeit „Außenseiter“ im Musikleben Frankreichs. Er nimmt in der neueren französischen Musik etwa die Stellung ein, die bei uns Brahms innehat. Strenge klassizistische Form und kontrapunktische Themenverarbeitung heben seine Musik aus der Reihe seiner Zeitgenossen. Cesar Franck ist ein Musiker vornehmster Inspiration. Das bezieht sich sowohl auf seine Themen als auch auf seine Harmonik und Instrumentation. Diese letzteren scheinen uns vor allem von Wagners „Tristan“ beeinflußt zu sein, und wir vernehmen in Francks Musik bereits jene feinen Zwischentöne, die in der von seinem Schüler Vincent d'Indy begründeten „Schola can-torum“ von den Komponisten Chausson und Faure weitergebildet wurden und den Stil der großen französischen impressionistischen Meister Debussy und Ravel bestimmen.Parays Interpretation ziehe daran? ab, das klassizistische Element gegenüber dem Klanglich-Romantischen im Werke Francks herauszuarbeiten — womit man im ganzen einverstanden sein kann.

Der zweite Abend des Colonne-Orchesters war als Festkonzert anläßlich der Gründung der. Französisch-österreichischen Gesellschaft gedacht.“ Das Programm enthielt in seinem ersten Teil klassische und romantische Werke öterreichischer Meister und im zweiten Teil Kompositionen neuerer französischer Musiker. Zwischen strenger klassischer Form und romantisch-deskriptiver Kunst hält Schuberts h-mqll-Symphonie genau die Mitte. Jener wunderbare Ausgleich zwischen Naturlaut und Kunstform, jene „rechte Mischung von Idealem und Realem“ (wie Bauernfeld einmal sagte) niögen auch den französischen Künstler wahlverwandt ansprechen und ihm den Weg zu einer stilechten Interpretation gewiesen haben.

Die Entwicklung der französischen symphonischen Dichtung, des Tongemäldes, konnte man an den Kompositionen von Franck („Redemption“), Faure (drei Stücke aus „Pelleas und Melisande“), Debussy und Ravel sehr schön verfolgen. In Debussy s Meisterwerk „V orspiel zum Nachmittag eines Fauns“ schließt sich der Kreis: diese Musik verzichtet darauf, zu schildern, zu erzählen; sie ist ganz „Ausdruck der Empfindung“, wie Beethoven es meinte. Wie sehr sich die Menschen und ihr Lebensgefühl innerhalb dieser hundert Jahre, die zwischen den beiden Werken liegen, gewandelt haben, wird mit eindringlicher Deutlichkeit klar. Pastofale, bukolische Stimmung dort und Mer. Bei Beetfioren: Erwache heiterer Empfindungen bei der Ankunft auf dem Lande, Szenen am Bach und Tanz der Landleute; Debussy schreibt ein Vorspiel zu einem mythologischen Genrebild, wie es Mallarme in seinem Gedicht zeichnet, und schafft durch das Medium eines differenzierten und abgedämpften Orchesterklangs eine Atmosphäre, wie sie einheitlicher und intensiver keinem Musiker vor und nach ihm gelungen ist. Dies kleine Meisterwerk der modernen Musik, das eine ganze Generation von jungen Musikern verzaubert und auch heute von seiner Wirkung nichts eingebüßt hat, muß man von einem französischen Orchester unter einem französischen Dirigenten hören. Werk und Wiedergabe entsprachen einander vollkommen. Diese Aufführung wird lange unvergessen sein.

Dominiert in Debussys Komposition vor allem das harmonische Element, so ist es in R a v e 1 s „La V a 1 s e“ der entfeseslte Rhythmus, der den Charakter des Werkes bestimmt. Über einer eigentümlich schwankenden harmonisch-modulatorischen Basis verdichten sich die Motivpartikel von Walzerthemen zu eigentümlich-spannungsvollen melodischen Phrasen. Allmählich gesteigert, mündet das Stück in einen dionysischen Taumel, der den Rahmen einer konzertanten Aufführung zu sprengen scheint und nach choreographischer Ausdeutung verlangt. Es hätte kein wirkungsvolleres, aber auch kein passenderes Werk für den AbschlufS dieser Konzertreihe gewählt werden können, als Ravelsv „La Valse“, in welchem der große französische Komponist dem Genius Witns und seinen großen Tanzkomponisten huldigt.

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