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Grenzenlos begrenzt

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Grenzen-loses Europa. Der Traum einer Generation, die als Kinder ab 1939 sieben Jahre eingesperrt war in einem von aller Welt isolierten Deutschland. Der erste, 1947 heiß erkämpfte, Paß und das Glücksgefühl als sich der Schlagbaum nach Italien hob: Die Welt umarmen.

Das wollten wir dann auch tatsächlich: 1947 fuhren wir, eine Gruppe Studenten, nach Kehl und forderten die Aufhebung der Grenzen zwischen Deutschland und Frankreich. Es sollte noch einige Jahrzehnte dauern. Daß sogar die Grenzen nach dem Osten eines Tages aufgehen würden, wagten wir allerdings nicht einmal in unserem jugendlichen Ungestüm zu hoffen.

Inzwischen ist das damals heiß Ersehnte zur banalen Selbstverständlichkeit geworden: 15 Staaten haben sich innerhalb der Europäischen Union auf den freien Verkehr von Waren, Personen, Kapital und Dienstleistungen verpflichtet. Doch umso unerbittlicher sperren sie ihre Außengrenzen als Festung Europa - gegen die Armen, die an ihre Tore pochen. Daß es daneben auch innerhalb der Festung da und dort noch hapert mit der vollen Freiheit des Verkehrs, wie etwa in Frankreich, das seine nördliche Grenze weiterhin streng kontrolliert, angesichts des Eindringens von Drogendealern aus Belgien und Holland, gehört vermutlich zu den Anfangsschwierigkeiten.

Was der freie Warenverkehr uns Österreichern antut, entgegen allen Versprechungen - der unerträgliche Zuwachs an Transitverkehr, die Leiden der Bevölkerung durch Lärm und Luftverpestung - ist die schwarze Kehrseite der EÜ-Gren-zen-losigkeit. Sie ist in erster Linie das Ergebnis der Unterordnung von Lebensinteressen unter kurzfristige Wirtschafte- und Geldinteressen.

Dahinter stellt sich die prinzipielle Frage: welchen Sinn haben Grenzen? Sind sie nur störende Barrieren oder auch immer wieder notwendiger Schutz?

Als es in der Schweiz um den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ging, schrieb Luise von Frantz, Psychoanalytikerin und langjährige Mitarbeiterin am C.-G.-Jung-Institut, einen Aufsatz, in welchem sie den tieferen Sinn von Grenzziehungen analysierte. Sie wies darauf hin, daß wir für das „Eigene”, das innerhalb der (Staats-, Grundstücks- et cetera) Grenzen Liegende, haftbar und verantwortlich sind, es daher zu pflegen und zu hüten haben. Alles jenseits der Grenzen ist als Bereich des „Anderen” zu achten. Das bedeutet, daß bei Aufhebung der Grenze das bisher als Eigenes Geachtete an Wert verliert, ist es doch von allen Seiten zugänglich und ausnutzbar geworden.

Jedes System ist durch Grenzen gekennzeichnet, von den Membranen der Zellen bis zu natürlichen von Landschaft und Klima. Gesetze begrenzen unser Handeln. Fortschritt entsteht durch brückenbauende Grenzüberschreitung und nicht durch Mißachtung von Grenzen der Machbarkeit und lebensschützender Grenzziehungen.

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