6985706-1986_25_14.jpg
Digital In Arbeit

Gefühl, Weg des Erkennens

Werbung
Werbung
Werbung

Die Denkstrukturen der allgemeinen Psychologie bewegen sich ähnlich jenen in der Philosophie und den Naturwissenschaften noch immer zwischen den zwei Extremvorstellungen: Der Mensch ist ein Tier; oder: Der Mensch ist eine Maschine.

Das Fatale daran ist, daß die meisten dieser Denkmodelle weitgehend auch unsere Pädagogik — und damit auch unsere alltäglichen Verhaltensmuster - bestimmen, einschließlich jener „Vorbilder“, die in Politik und Wirtschaft wirksam sind.

Einige Zeit vor seinem Tod sagte der deutsche Psychoanalytiker

Alexander Mitscherlich in einer Fernsehsendung sehr selbstkritisch: „Wir wissen alle sehr viel über Raumfahrt und Atomenergie, wir wissen aber sehr wenig über uns selbst. Wir sind Analphabeten der Seele und der Gefühle ...“

Mittlerweile scheint sich der weiße Fleck auf der Landkarte des menschlichen Inneren wieder etwas verkleinert zu haben. In seinem Buch „Psychologie der ästhetischen Wahrnehmungen“ durch-

bricht Walter Schurian (Professor für Psychologie an der Universität Münster) die Schranke des Ist-Zustands. Er versucht nicht nur die Wechselwirkung der inneren und äußeren Bedingungen des Menschen deutlich zu machen, sondern auch zu erhellen, was der Mensch über seine Triebstrukturen (sein „Tiersein“) hinaus noch ist und sein kann.

Die allgemeine Psychologie und damit auch unsere Pädagogik richten ihr Hauptaugenmerk auf die Ausbildung des linearen und rationalen Denkens sowie auf die bewußte Auseinandersetzung mit der Umwelt. Die Gefühle werden vielfach ausgeklammert.

Demgegenüber gibt es immer mehr Bewegungen mystisch-mythischer Art, die sich - unter welchem Titel auch immer — um die ausgeklammerten Gefühle „kümmern“.

In der .Psychologie ästhetischer Wahrnehmungen“ heißt es diesbezüglich: „Gefühle sind eine wesentliche Quelle des Erkennens. Sie ermöglichen ein Lernen mit anderen Mitteln als nur mit

Worten. Gefühle leiten sich aus der Wahrnehmung von Körperreaktionen ab und vermitteln Einsichten, die sich dem Verstand oft verschließen.“

In diesem Entwurf erscheint das Gefühl also als Informationsträger und wesentlicher Bestandteil auch unserer Vernunft. Es ist dem Verstand gleichgesetzt. Das heißt: Weder der Verstand noch das Gefühl sind allein bei einem Erkenntnisprozeß beteiligt,

sondern zusammen bringen sie Erkenntnis hervor.

So sind zum Beispiel Sympathie und Antipathie maßgeblich dafür, daß Schulunterricht einmal erfolgreich und ein anderes Mal völlig mißraten sein kann. Sie sind „vorrational“ und entstehen durch „Schwingungen“ (unter

anderem auf der Hautoberfläche), noch bevor sie verstandesmäßig wahrgenommen werden können.

Dasselbe gilt für Geruch und Geschmacksempfindungen und für zelluläre Prozesse auf anderen Wahrnehmungsebenen. Sie steuern nicht nur unsere Körperreaktionen (etwa Erröten, Erblassen), sondern beeinflussen maßgeblich auch unser rationales Denken und Handeln, also unser Entschei-dungs- und Planungsvermögen.

DIE PSYCHOLOGIE ÄSTHETISCHER WAHRNEHMUNGEN. Von Walter Schurian. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 1986, 204 Seiten, öS 280,-.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung