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Martyrium der Wahrheit

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Dem Erzbischof von Wien, Kardinal Hans Hermann Groer, gebührt alles Mitgefühl, das in diesen Tagen auf ihn gehäuft wird - auch wenn man sich dafür entschieden hat, die Sympathisanten im unklaren darüber zu lassen, ob Solidarität mit einem zu Unrecht oder zur Unzeit Angegriffenen am Platz ist. Was Kardinal Groer zu erleiden hat, tilgt wohl mehr als die Alltagssünden eines einzelnen, welcher Art immer diese gewesen sein mögen.

Aber zum Martyrium der Wahrheit, zum Glaubenszeugnis unter extremer Opferlast, wird sein Leiden nur dann, wenn die römisch-katholische Kirche den Mut aufbringt, nach dem Tabu-Rruch gegenüber Groer auch das Tabu gegenüber den Opfern des Zölibatsgesetzes zu brechen und offen ein Problem anzusprechen, das in sehr unchristlicher Lieblosigkeit hinter eine Kirchenmauer des verbissenen Schweigens gesteckt worden ist.

Die Rede ist von den vielen Frauen, die Priester lieben und von ihnen geliebt, aber nicht als Gefährtinnen offen einbekannt werden. Die Rede ist von Priesterkindern, die ihre Väter nicht kennen und bekennen dürfen. Die Rede ist von homosexuellen Priesterpartnern, die ihr Verhältnis durchaus als Reglückung empfinden, aber immer wieder schmerzvoll erleben müssen, wie ihre Emotion als schwere Sünde verdammt wird. Und gewiß ist die Rede auch von Menschen, die seit ihrer Knabenzeit das Trauma sexuellen Mißbrauchs durch Priester an sich tragen und ohne „Outing” damit fertigzuwerden versuchen.

Sie alle gibt es. Sie alle leiden. Sie alle erfahren nicht einen winzigen Rruchteil der solidarisierenden Zuwendung, die jetzt -aus achtbaren Gründen - dem Erzbischof von Wien zuteil wird. Für sie organisiert niemand in der Kirche, von Leidensgenossen abgesehen, Gebetsstunden und Sympathiekundgebungen. Und doch zählt jeder und jede von ihnen vor Gott genau so viel wie ein Kardinal.

Wenn der Erzbischof von Wien zu erkennen gibt, daß er sein Martyrium im Namen aller dieser Opfer trägt und erträgt und die jetzige Debatte zu einer offenen Aufarbeitung dieser Problematik nützen will, wird er zum Helden des Kirchenvolkes und zum Anwalt wahrer Menschlichkeit, aber auch kirchlicher Autorität. Dazu ist freilich eine andere Reaktion notwendig, als sie im ersten Schock eingeschlagen worden ist.

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