Chaos vor dem Umbruch

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Entschuldigungen über die katholischen Missbrauchsfälle kann Peter Isely nicht mehr hören. Der Lobbyist für die Opfer ortet dennoch: In der katholischen Kirche bewegt sich etwas.

Sie nennen sich „Überlebende“ – „Survivors“ von sexuellem Missbrauch und haben sich in SNAP – Survivors Network of those Abused by Priests (Netzwerk der Überlebenden, die von Priestern missbraucht wurden) zusammengeschlossen. Peter Isely ist einer der Gründer von SNAP.

Die Furche: Sie selbst sind ein „Survivor“.

Peter Isely: Ich wurde als Schüler von einem Kapuziner in Wisconsin missbraucht. Ich war damals 13 und es passierte etwa ein Dutzend Mal. Ich war in einem Knabenseminar. Der Priester hat sich nicht nur an mir, sondern an 41 anderen Kindern und Jugendlichen vergangen. Das stand in seinem Akt, der Tausende Seiten lang ist. Er missbrauchte Kinder über einen Zeitraum von 40 Jahren und wurde von seinem Orden sowie vom Erzbischof von Milwaukee geschützt.

Die Furche: Wann fand das alles statt?

Isely: Bei mir war es in den 70er Jahren. Im Seminar gab es ein halbes Dutzend Patres, die jahrelang Seminaristen missbraucht haben – von den 60ern bis in die 90er Jahre. Es folgten Gerichtsverfahren, die Kapuziner standen dabei wegen „organisierter Kriminalität“ vor Gericht, denn die Dokumente zeigten ein organisiertes Grundmuster von Missbrauch, Vertuschung und Versetzung von Tätern. Das ist meine Geschichte. Nachdem ich missbraucht worden war, blieb ich im Seminar und konnte niemandem davon erzählen. Mit 18 glaubte ich, zum Priester berufen zu sein. Denn ich komme, wie viele andere Missbrauchsopfer in den USA, aus einer sehr frommen Familie. Die Täter haben sich die „katholischsten“ unter ihren potenziellen Opfern herausgepickt, sie haben unsere Loyalität benutzt und unsere Liebe und unseren Glauben an die katholische Kirche, um ihre Verbrechen leichter begehen zu können und unentdeckt zu bleiben.

Die Furche: Was bedeutet „fromme Familie“ in Ihrem Fall?

Isely: Mein Vater starb, als ich neun Monate alt war. Meine Mutter zog uns acht Kinder allein auf. Wir wuchsen in der katholischen Pfarre einer Kleinstadt in Wisconsin heran. Ich ging, bis ich 20 war, jeden Tag zur Messe! Auch meine Mutter ging bis zu ihrem Tod 2008 täglich dorthin, sie war von tiefer Marienfrömmigkeit geprägt. Als sie entdeckte, dass ihr Sohn, den sie der Kirche „gegeben“ hatte, damit er Priester wird, auf diese für sie unvorstellbare Weise missbraucht worden war, hat ihr das das Herz gebrochen. Ein Grund warum ich so lange gebraucht habe, um über diese Vorfälle zu sprechen, war, dass ich das wusste. Der Priester, der sich an mir vergangen hat, sagte uns: Denk, was du deiner Mutter antust, wenn darüber sprichst.

Die Furche: Ist dieser Priester dann zur Verantwortung gezogen worden?

Isely: Vor etwa 20 Jahren gehörte ich zu den Gründungsmitgliedern von SNAP. Da bin ich zum Provinzial der Kapuziner gegangen und habe ihm erzählt, was mir widerfahren ist. Viele Opfer gehen zunächst zu den zuständigen Kirchenoberen in der Hoffnung, dass diese die Täter zur Verantwortung ziehen. Der Provinzial versprach mir, den Priester, der mich missbraucht hatte, von Kindern fernzuhalten und unter Beobachtung zu stellen. Und er erzählte mir, dass er selber ein Missbrauchsopfer sei. Doch keines der Versprechen wurde dann auch gehalten: Der Priester war weiter mit Kindern zusammen und lebte allein in Milwaukee. Das war der Punkt, an dem ich als Opfer eine Entscheidung treffen musste: Ich kann der Kirche nicht trauen, die Oberen tun nichts und übernehmen keine Verantwortung für diesen Mann, die Kinder sind in Gefahr; ich muss einen Weg finden, das zu melden und etwas zu tun. Solches geschah unabhängig voneinander in verschiedenen Teilen der USA …

Die Furche: … und so begann SNAP.

Isely: Bei mir war das 1992: Damals schrieb der Erzbischof von Milwaukee, Rembert Weakland, auf Seite 1 der größten Lokalzeitung mit einer Million Lesern einen Aufsatz über sexuellen Missbrauch in der Kirche. Ich war mit einigen seiner Aussagen nicht einverstanden. So verfasste ich – gleichfalls für Seite 1 eine Antwort. Daraufhin meldete sich ein weiteres Opfer bei mir und noch andere – so begann meine Arbeit mit „Überlebenden“, wie wir die Opfer bezeichnen.

Die Furche: Warum sind Sie jetzt in Europa?

Isely: Ich bin im März nach Rom gefahren, um den Fall von Father Lawrence Murphy aus der Erzdiözese Milwaukee bekannt zu machen, welcher 200 taube Kinder und Jugendliche missbraucht und vergewaltigt hat – oft während der Beichte. Erzbischof Weakland hat den Fall Ende der 90er Jahre an die Glaubenskongregation gebracht, Kardinal Ratzinger und vor allem seine Nummer zwei, der heutige Kardinal-Staatssekretär Tarcisio Bertone, waren damit befasst. Bereits 1958 wusste man in der Erzdiözese Milwaukee über Father Murphy Bescheid, der Vatikan war seit 1974 informiert. Doch die Glaubenskongregation entließ Murphy nicht aus dem Priesterstand. Als er starb, wurde er in seinen liturgischen Gewändern beigesetzt, bei der Armee würde man sagen: mit allen militärischen Ehren. Seine Opfer haben 30 Jahre um Gerechtigkeit gekämpft, obwohl sie in Milwaukee schon 1975 Father Murphy öffentlich als „Kinderschänder“ bezeichnet hatten. Nun haben wir in Rom auf diesen Fall aufmerksam gemacht. Von 1958 bis 1999 und danach – man kann es in den Akten nachlesen – war es immer darum gegangen, das Ganze geheimzuhalten. Aber der Fall Murphy ist nun weltweit bekannt.

Die Furche: Sie waren jetzt im Juni wieder in Rom. Hat sich hier etwas verändert?

Isely: Es ändert sich etwas. Ich glaube, zurzeit weiß niemand – wahrscheinlich auch der Papst selbst nicht –, was das genau ist. Es sind in den letzten Monaten Kräfte frei geworden, die sehr positive Ergebnisse zeitigen können – oder aber dahin zurückkehren, wie es zuvor war. Chaos ist notwendig, eine Zeit der Konfusion. Dinge müssen aufbrechen, die Systeme dürfen nicht mehr wie gewohnt arbeiten können. All das geschieht jetzt und schafft neue Möglichkeiten. Wir sind nun näher an dem, worüber zu reden ist. Das bewegt sich in die richtige Richtung.

Die Furche: Sie haben die jüngste Entschuldigung des Papstes auf dem Petersplatz gehört. Reicht Ihnen das?

Isely: Wir „Survivors“ sind der Entschuldigungen müde. Das ist nun die, glaube ich, vierte Entschuldigung des Papstes. Die Opfer, die er wirklich angesprochen hat – ich will das gar nicht kleinreden – brauchen Heilung. Und für „Survivors“, die in der Kirche bleiben wollen, ist es notwendig, zur Vergebung zu kommen. In jeder Beziehung – ob in der Ehe oder anderswo: Wenn man zusammenbleiben will, muss man vergeben können. Das gilt auch hier: Wer in der Kirche bleiben will, muss einen Weg zur Vergebung finden. Das ist wichtiger als jede Entschuldigung. Und um das zu erreichen, sind Ergebnisse nötig. Wir wollen wissen, was passiert, dann erst wissen wir, ob die Entschuldigung wirkt. Geschieht nichts, ist jede Entschuldigung sinnlos. Mir wäre wichtiger, hätte der Papst gesagt: Ab jetzt kann ein Priester, der sich an einem Kind vergangen hat, kein Priester mehr bleiben.

Die Furche: Sie haben sich in Wien auch mit Kardinal Schönborn getroffen.

Isely: Ich habe dem Kardinal gesagt: Es melden sich Opfer aus diesem Land bei uns in den USA. Sie gehen nicht zur Erzdiözese Wien, sondern sie kommen zu uns in Chicago! Sie trauen niemandem, aber sie sehen, was SNAP in den USA tut. Es ist eine außergewöhnliche Situation. Ich habe den Kardinal dringend ersucht: Wenn die österreichischen Bischöfe am Montag zu ihrer nächsten Session zusammenkommen, dann sollen sie – wie ihre Kollegen in den USA – eine Null-Toleranz-Politik auch in Österreich einführen und alle geistlichen Missbrauchstäter zumindest von der öffentlichen Ausübung des Priesteramtes ausschließen.

* Das Gespräch führte Otto Friedrich

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