Missbrauch weltkirchenweit
Von den USA bis nach Europa, von Kanada bis Chile: Die Missbrauchsaffären erschüttern die katholische Weltkirche weiter. Allerorts wird nun an strengen Richtlinien gearbeitet. Der österreichische Weg ist anders.
Von den USA bis nach Europa, von Kanada bis Chile: Die Missbrauchsaffären erschüttern die katholische Weltkirche weiter. Allerorts wird nun an strengen Richtlinien gearbeitet. Der österreichische Weg ist anders.
Vor wenigen Tagen legte die gemischte Kommission aus US- und Kurien-Bischöfen revidierte Richtlinien vor, die in den USA für den kirchlichen Umgang mit sexuellem Missbrauch durch Priester gelten sollen. Im Juni hatten die US-Bischöfe strenge Normen verabschiedet, um dem ausufernden Missbrauchs-Skandalen Herr zu werden (vgl. Furche 25/20. Juni 2002). Diese Richtlinien gingen in Richtung der "Zero Tolerance"-Forderungen von Opfer-Vereinigungen: Bei "glaubwürdigem Verdacht" auf Missbrauch sollte der beschuldigte Priester suspendiert, bei erwiesenen Verfehlungen dann ganz aus seinem Amt entfernt werden.
Allerdings bemängelten – in den USA wie in Rom – wichtige Stimmen schon bald, dass die US-Richtlinien mit dem Kirchenrecht nicht im Einklang wären. Als der Vorsitzende der US-Bischofskonferenz, Bischof Wilton Gregory, im Oktober nach Rom kam, musste er daher einer Revision der Richtlinien zustimmen, die von einer Kommission mit je vier Bischöfen aus den USA und dem Vatikan erarbeitet wurde.
In diesen neuen Richtlinien ist zum einen die Definition des sexuellen Missbrauchs strenger gefasst. Außerdem kommt bei Anschuldigungen gegen einen Priester nun ein dreistufiges Verfahren in Gang, an dessen Beginn eine vertrauliche Voruntersuchung durch den Ortsbischof steht. Erst wenn sich dort die Beschuldigungen als glaubhaft erweisen, kann ein Priester suspendiert werden; die ursprünglichen Richtlinien hatten eine sofortige Suspendierung vorgesehen.
Generell wurde auch das Berufungsrecht eines beschuldigten Priesters gestärkt sowie den Verjährungsfristen des Kirchenrechtes Rechnung getragen, nach denen ein Fall 10 Jahre nach dem 18. Geburtstag eines Opfers verjährt. Vor allem letzteres rief Kritik hervor, denn die meisten Causen der 300 US-Priester, die seit Juni suspendiert worden waren, sind damit verjährt. Die US-Bischöfe müssen die neuen Richtlinien bei ihrer derzeit in Washington tagenden Herbstkonferenz annehmen und dann dem Vatikan erneut zur Billigung vorlegen.
Vertreter der Missbrauchsopfer sehen in den neuen Richtlinien eine entscheidende Aufweichung der im Juni beschlossenen Maßnahmen; das Echo im Land war dennoch nicht so groß wie vor dem Sommer. John Allen, Rom-Korrespondent des liberalen National Catholic Reporter, vermutet in seiner wöchentlichen Kolumne, dass die Kongresswahlen das Medieninteresse in andere Richtungen gelenkt haben. Außerdem hätten alle, die über die Kirchenverhältnisse Bescheid wussten, die Entscheidungen Roms vorausgesehen.
Boston und die ganze Welt
Neben den skizzierten Verfahren und Vorgangsweisen werden in allen US-Diözesen Missbrauchskommissionen eingerichtet, auch bei der US-Bischofskonferenz gibt es ein entsprechendes Büro, das von der bisherigen dritthöchsten FBI-Beamtin, Kathleen McChesney, geleitet wird. In der Erzdiözese Boston, wo im Jänner 2002 alles begann, wurden inzwischen 24 Priester aufgrund von Missbrauchs-Anschuldigungen suspendiert – Medien wie die renommierte Tageszeitung The Boston Globe stellte ihre Namen samt Foto auch ins Internet. Viele Geistliche in den USA waren über derartige Veröffentlichungen empört.
Gleichzeitig nehmen die finanziellen Folgen für die Diözesen dramatische Folgen an: Nach Angaben des Boston Globe hat sich allein die Erzdiözese Boston mit den Missbrauchsopfern auf die Zahlung von mehr als 40 Millionen Euro geeinigt; diese Summe könnte gar auf 100 Millionen Euro steigen. Am 3. November räumte Kardinal Bernard Law, der wegen seines Umgangs mit den Fällen viel kritisierte Bostoner Erzbischof, bei einer Predigt erstmals ein: Er sei durch das Versetzen von Priestern, die Missbrauchstäter waren, in andere Pfarren für die Skandale mitverantwortlich; und er bat die Missbrauchsopfer um Verzeihung.
Die Missbrauchsaffären in den USA sind aber nur ein Drama in vergleichbaren Vorgängen in der katholischen Welt: In Chile soll 1997 der Rücktritt eines Erzbischofs wegen Missbrauchs erfolgt sein. Die chilenischen Bischöfe wollen im November strenge Richtlinien zum sexuellen Missbrauch erarbeiten. Ihre Amtsbrüder in Kanada, Argentinien und Brasilien wollen Ähnliches tun. Auch der Londoner Kardinal Cormac Murphy O'Connor rief dazu auf, die Kritik von Missbrauchsopfern ernst zu nehmen; sein irischer Amtsbruder, Kardinal Desmond Connell von Dublin - wegen der Versetzung verdächtiger Priester in andere Pfarren selbst im Kreuzfeuer der Kritik – entschuldigte sich bei allen Opfern. In Deutschland veröffentlichte die Bischofskonferenz bereits im Oktober Leitlinien zum Umgang mit sexuellem Missbrauch, in der Schweiz soll im Dezember Gleiches folgen.
In Österreich keine Leitlinien
Und in Österreich? In den offiziellen Erklärungen nach der Herbstsitzung der Bischöfe kam das Thema Missbrauch nicht vor. Letzten Freitag, bei deren Abschlusspressekonferenz, meinte Kardinal Christoph Schönborn auf Anfrage der Furche, die Bischöfe hätten zwar darüber gesprochen, man setze aber nicht so sehr auf Leitlinien: Der österreichische Weg seien vielmehr die Ombudsstellen, die sich in Österreich "wirklich bewährt" hätten, und die sehr konkrete, den Situationen nahe Umgangsweisen vorschlagen könnten. Doch gerade während Österreichs Bischöfe tagten, wurde in Eisenstadt ein ehemaliger Pfarrer – unter anderem – wegen versuchten sexuellen Missbrauchs zu einer bedingten Haftstrafe verurteilt ...
In fünf der zehn Diözesen gibt es derzeit die von Kardinal Schönborn gelobten Ombudsstellen für Opfer sexuellen Missbrauchs. Helmut Schüller, der Leiter der Wiener Ombudsstelle, musste in den sechs Jahren seiner diesbezüglichen Tätigkeit bereits 65 Beschwerden nachgehen. Schüller plädiert aber klar: Auch in Österreich muss es Richtlinien geben, weil diese ein klares Signal einerseits in die kirchliche und außerkirchliche Öffentlichkeit, andererseits aber auch in Richtung potenzieller Täter bedeuten. Unabdingbar ist für Schüller dabei der Schutz möglicher Opfer, obwohl ihm klar ist, dass auch die Beschuldigten Rechtssicherheit erwarten dürfen. Schüller: "Wir wollen kein Kriegsrecht' mit standrechtlicher Erschießung der Täter'."
Doch der Schutz von Gefährdeten – dazu zählen, so Schüller, neben Kindern und Jugendlichen auch Pflegebedürftige, Behinderte sowie psychisch labile Menschen – gehe der Kirche bis ans Mark. Und bleibe bei weitem nicht auf Priester als potenzielle Täter beschränkt. Schüller weiß aus seiner Ombudsstellen-Erfahrung, dass es auch in der Tätigkeit von Ehrenamtlichen innerhalb wie außerhalb der Kirche sexuelle Übergriffe auf Schutzbedürftige gibt. Da tut sich ein riesiges Feld auf: Für die katholische Kirche jedenfalls, so ist Schüller überzeugt, erwächst da dringend Handlungsbedarf.
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