Schönborn-Wagner: Die Wut muss Platz haben
Doris Wagner und Christoph Schönborn über Macht und Missbrauch in der Kirche: Das wegweisende Gespräch, das auszugsweise im Fernsehen gezeigt wurde, liegt nun in voller Länge als Buch vor.
Doris Wagner und Christoph Schönborn über Macht und Missbrauch in der Kirche: Das wegweisende Gespräch, das auszugsweise im Fernsehen gezeigt wurde, liegt nun in voller Länge als Buch vor.
Es war eine Sensation: Das am6. Februar 2019 im Bayerischen Fernsehen (BR) ausgestrahlte Gespräch zwischen Doris Wagner (verheiratete Reisinger) und Kardinal Christoph Schönborn. Die TV-Dokumentation dauerte 45 Minuten. Tatsächlich jedoch saßen sich die beiden, die zuvor drei Mal miteinander telefoniert hatten, am 2. Februar in einem Hörfunkstudio des BR ganze vier Stunden gegenüber. Das gesamte Gespräch, das ohne Moderator auskam, liegt nun in Buchform vor. Zwischen dem Gespräch, das mit Absicht im Vorfeld des in der letzten Februarwoche angesetzten Kinderschutzgipfels im Vatikan gesendet wurde, und der Veröffentlichung des Buches liegt ein Freispruch: Am Tag des Erscheinens des nachmaligen Bestsellers „Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche“ von Doris Wagner (FURCHE 5/2019) war Pater Hermann Geißler FSO als Amtschef („Cappo uffizio“) der Lehrabteilung („Uffizio dottrinale“) der Glaubenskongregation zurückgetreten. Im Mai 2019 wurde er von der Apostolischen Signatur, dem höchsten kirchlichen Gerichtshof, freigesprochen.
Sexuelle Belästigung bzw. unsittliche Annäherung während einer Beichte könnten „nicht mit der gebotenen moralischen Gewissheit bewiesen werden“. Eine nach kirchlichem Recht strafbare Handlung stehe nicht fest. 2012 hatte Wagner, die im Herbst 2011 ausgetreten war, einen anderen Priester ihrer Gemeinschaft wegen Vergewaltigung angezeigt, der eine „einvernehmliche“ sexuelle Beziehung einräumte. Sowohl eine österreichische wie eine deutsche Staatsanwaltschaft wiesen 2012/13 den Vorwurf der Vergewaltigung zurück.
„Ich glaube Ihnen, ja.“
Im Raum steht allerdings auch der kurze Satz von Kardinal Schönborn auf die Frage des mutmaßlichen Missbrauchsopfers: Ich habe so vielen so oft meine Geschichte erzählt, ich habe Anzeige erstattet und vieles andere versucht. Doch von niemandem aus meiner ehemaligen Gemeinschaft habe ich das gehört: „Wir glauben dir – und das hätte dir nicht passieren dürfen!“ Könnten Sie mir das sagen?
Schönborns Reaktion: Ich glaube Ihnen, ja. Postwendend hatte sich die Gemeinschaft „Das Werk“ („Familia spiritualis
opus“: FSO) darob „enttäuscht“ gezeigt. Aussage steht gegen Aussage, eidesstattliche Erklärung gegen eidesstattliche Erklärung. Die Arte-Dokumentation „Gottes missbrauchte Dienerinnen“ über die Vergewaltigung von Ordensfrauen durch Priester, in der Wagner ebenfalls kurz zu Wort kommt, löste im Februar/März weltweit Bestürzung aus (vgl. FURCHE 14/2019). „Das Werk“ erwirkte gegen den deutsch-französischen Kultursender eine einstweilige Verfügung, ebenso gegen andere Medien, die darüber berichtet hatten. Arte musste die Doku aus der Mediathek nehmen. Das Gespräch Wagner–Schönborn geht unter die Haut. Beide sind sehr authentisch. Fragen und Antworten folgen keinem erkennbaren Schema. Es ist so, als seien die beiden unter sich. Manchmal hat man den Eindruck, den beiden ist nicht bewusst, dass später Tausende mitsehen oder in der BR-Mediathek nachschauen würden.
Es ist wirklich ein Gespräch „auf Augenhöhe“. Schönborn lobt Wagners Bücher (2014 erschien „Nicht mehr ich“, fünf Jahre später „Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche“). Beide erzählen von ihrer religiösen Sozialisation.
Schönborn kritisiert die Fixierung auf das sechste Gebot (da war schonetwas Krankes) und berichtet stockend von einem versuchten Übergriff durch einen Priester, den er in seiner Jugend erlebt hat. Auf seinen Vorgänger als Erzbischof, Kardinal Hans Hermann Groër, wie auch auf den charismatischen Priester Fernando Karadima in Chile, den Papst Franziskus aus dem Klerikerstand entlassen hat, träfe zu: Im Missbrauchsverhalten haben sich das Spirituelle und das Missbräuchliche vermischt – ein Schema, das wir bei mehreren bedeutenden Persönlichkeiten, auch bei manchen neueren Bewegungen sehen.
Ein gutes Leben finden – trotzdem
Wagner hebt stark auf das Machtungleichgewicht ab. Schönborn nennt dieses, zusammen mit Überhöhungen des Priesterbildes, eine Wurzel des Missbrauchs. Er bekennt: Ich bin als Bischof in einer Doppelfunktion, es gibt keine Gewaltenteilung: Ich bin Hirte für die Gläubigen und auch für die Priester, und ich bin Richter. Das kann einem das Herz zerreißen, weil ich natürlich zuerst an die Opfer denke, aber dann auch den Menschen sehe, der zwar das Leben anderer schwer, manchmal lebenslang belastet hat, der aber selbst auch ein Mensch ist. Es ist doch erstaunlich, aus dem Mund eines Kardinals zu hören: Im Bischof sind zu viele Funktionen kumuliert. Auf Fortschritte können beide hinweisen. Die Wut muss Platz haben, das ist mir auch bewusst geworden – sagt Schönborn. Und Wagner: Für mich ist die Institution nicht das Wichtigste, sondern meine tragende Hoffnung ist wirklich, dass die Menschen, die in der Kirche gelitten haben, ein gutes Leben finden können.
Ihr ist das gelungen. Dass sie aus manchen Ecken weiterhin dämonisiert wird, ist ein Skandal. Sexueller Missbrauch hat mit spirituellem Missbrauch zu tun. Für diese Bewusstseinsbildung macht Doris Wagner landauf landab Werbung. Bei Christoph Schönborn ist diese Botschaft angekommen. Ein ehrliches Buch ist das. Beschämend. Aufschlussreich. Am Ende bleibt, wie immer, die Frage: Was löst es aus? Was bewirkt es – bei denen, die es lesen; bei denen, die die Macht haben, etwas zu ändern?
Der Autor ist Jesuit und Publizist in München
Schuld und Verantwortung. Ein Gespräch über Macht und Missbrauch in der Kirche.
Von Doris Wagner, Christoph Schönborn
Herder 2019, 128 S., geb., € 16,50
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