6775523-1969_20_10.jpg
Digital In Arbeit

Mit anderen Augen

Werbung
Werbung
Werbung

Die Priester Frankreichs sahen sich daher gezwungen, die Gegenwart mit anderen Augen zu betrachten, als dies in der behaglichen Bürgerlichkeit bis 1960 der Fall war. Diskussionen um die Zukunft des Priesterstandes werden keineswegs im Geheimen ausgetragen, sondern in aller Öffentlichkeit.

Es ist bemerkenswert, daß nicht nur die theologische Literatur von derartigen Reflexionen Kenntnis nimmt, sondern die Pariser Tages- und Wochenpresse mit unzähligen Artikeln, Betrachtungen und Untersuchungen aufwartet, welche die Zukunft des Priesterberufes berühren. Selbst die Gazetten der extremen Linksparteien werden von der Fragestellung angezogen. Die kommunistischen Starphilosophen und -Soziologen proklamieren diesbezügliche Meinungen.

Auch der Priesterstand in Frankreich wurde von den Ereignissen der Monate Mai/Juni 1968 zutiefst betroffen. Wenn Frankreich unter einem „Trauma des Mai“ steht, so gilt das gleichfalls für den Priester. Manchmal wird die Autorität der Bischöfe von jungen Seminaristen und Klerikern bezweifelt. Sie verwehren vielfach einer älteren Generation das Recht, in ihrem Namen zu sprechen und zu handeln. Erste Beispiele einer Fronde innerhalb des französischen Klerus zeichneten sich vom 23. bis 25. Dezember 1968 in Lyon ab, wo sich 300 Priester versammelten, um den Aktionen der Kirche originelle apostolische Impulse zu schenken. Kardinal Renard war großzügig genug, den Priestern die vollkommene Freiheit des Wortes zu sichern. Die 300 wünschten, daß der Vatikan erst nach Konsultierung der Priester von den jeweiligen Diözesen die Bischöfe bestelle. In der Schlußsynthese hieß es: „Die Priester mögen ihr Getto verlassen. Wir wollen nicht weiterhin Mitglieder eines klerikalen Verwaltungsapparates sein. Auch verheiratete Männer können das Sakrament der Priesterweihe empfangen.“ Doch nicht alle Priester von Lyon vertreten dieselbe Ansicht. 210 von den 1400 versammelten sich am 25. Februar 1969 und richteten ein Rundschreiben an die Kleriker der Diözese Lyon. Besorgt fragten die Versammelten, ob etwa die Autorität des Papstes und der Bischöfe zur Diskussion stehe. Wird nicht der Begriff des Priestertums als solcher kontestiert? Die geistige Gewalt stammt von Christus, der sie über seine Apostel weitergegeben hat. Daher kann das Volk Gottes die Nachfolger nicht ohne weiteres bestimmen. — Diese Sorge ist teilweise verständlich. Zu Beginn des Jahres hatten sich 621 Priester der Gruppe „Austausch und Dialog“ in Paris getroffen, um nach zahlreichen Vorarbeiten den Priesterberuf neu zu fixieren. Einige Teilnehmer der Zusammenkunft waren verheiratet. Zwei von ihnen hielten die Begleitung ihrer Frauen für angebracht.

Die 621 anerkennen die Funktion der Bischöfe, erwarten aber eine Änderung der Beziehungen zwischen Basis und Führung. Die Priester der Gruppe „Austausch und Dialog“ stehen der Übernahme politischer und gewerkschaftlicher Aufgaben im weltlichen Raum positiv gegenüber.

Weit über die Meinungen dieser Fraktion hinausgehend, wird immer wieder von den französischen Priestern der Wunsch vorgetragen: tagsüber zu arbeiten. Des öfteren haben Kleriker ohne bischöfliche Genehmigung einen entsprechenden Arbeitsplatz gefunden. Die Mehrheit der Priester glaubt, daß sich die Kirche von der gegenwärtigen Zeit isoliert, wenn sie sich abkapselt wie in der Vergangenheit. Der Priester habe die Verpflichtung, die erwachsenen Männer und Frauen dort aufzusuchen, wo sie den Großteil ihrer Zeit verbringen, nämlich am Arbeitsplatz. Die jungen Priester wollen nicht mehr „soziale Parasiten“ ohne Familie, Verpflichtung und Situation sein. Ist es angebracht, die jungen Kleriker durch Jahre in ein künstliches Milieu zu zwingen und sie zu “klerikalisieren? Kann man sie dann in eine Welt entsenden, die sie nicht begreifen und deren Probleme sie kaum ahnen?

In allen Kundgebungen und Gesprächen der Geistlichen, in den Briefen an die Bischöfe wird die Frage aufgeworfen, wieweit der Priester künftighin einer bezahlten Arbeit nachgehen kann. Derzeit amtieren 60,8 Prozent der Priester in ihrer Pfarrei, 16,3 Prozent im Unterricht und nur 5 Prozent werden als Seelsorger der Berufsverbände mit der Gegenwart konfrontiert. Selbst der gemütlichste Cure weiß, daß die traditionellen Pfarrstrukturen nicht mehr den Anforderungen der Zukunft gewachsen sind.

Infolge der oft entfernt liegenden Arbeitsplätze, der verstärkten Motorisierung können die Priester ihren Aufgaben in der Pfarrei kaum gerecht werden. Auch der Jungpriester will die Freuden der Arbeit, deren Monotonie und Ermüdung, die Kameradschaft und soziale Verantwortung kennenlernen. Er wünscht die Fesseln zu sprengen, die ihn an die ehrwürdigen Kathedralen, Kirchen und Kapellen binden. Seit der Gründung der „Mission de France“ im Jahre 1942, dem Entstehen der „Mission de Paris“ im Juli 1943, ging von' diesen Institutionen ein fruchttragender Strom von Impulsen aus. Der französische Priester fühlt sich an die Erkenntnisse gebunden, die Abbe Godin in genialer Weise während des Krieges ausarbeitete.

Mit der sozialen Eingliederung des Priesters in die moderne Gesellschaftsordnung wird die Berechtigung des Zölibats aufgeworfen. Den 621 Priestern schien dieses Problem nicht genügend reif zu sein, um ein abschließendes Urteil zu wagen. Während der schon genannten Zusammenkunft dieser Priester erstatteten Extremisten den Vorschlag, auch die verheirateten Priester zur Zelebrierung der Messe einzuladen. Die Mehrheit der Anwesenden sprach sich entschieden dagegen aus. Sie beteten in Pariser Kirchen gemeinsam mit ihren verheirateten Kollegen, verweigerten ihnen jedoch das Recht, die Messe nach den Gesetzen der Kirche zu feiern. Aus den veröffentlichten Dokumenten und sonstigen Informationen geht hervor, daß die jungen Priester wohl in der Überzahl das Zölibat verteidigen, aber verheiratete Priester akzeptieren. Der populäre Priesterjournalist Rene Laurentin hat besser als jeder andere die Konsequenzen dieser Debatten erkannt: Der Priester will nicht mehr ein Funktionär des Kultes und von diesem bezahlt sein. Er wünscht im gegebenen Fall politische, gewerkschaftliche und soziale Verpflichtungen zu übernehmen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung