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Nur ein Dialog

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Werkraumnimbus, Experimentiervergnügen, Stichwort „Uraufführung“ — das waren wohl die Argumente dafür, warum die Münchner Kammerspiele, die sonst nicht gerade sehr uraufführungsfreudig sind, in ihrer Dependance des Werkraumtheaters die szenische Uraufführung der dramatisch gänzlich unergiebigen „Flüchtlingsgespräche“ von Bert Brecht zur Uraufführung brachten. Ohne den Autorennamen Brecht hätte diese lässige, nur bisweilen Profil annehmende Gesprächsfolge wohl kaum das Licht einer Rampe erblickt. In sechs Begegnungen im Bahnhofsrestaurant Helsinki Anno 1942 diskutieren und witzeln zwei deutsche Emigranten, ein linksintellektueller Physiker und ein Arbeiter mit KZ-Vergangenheit, ohne viel dramatischen Effekt über die damalige Weltsituation, über die Fehler der Zwischenkriegszeit, über Hitler, über den Kapitalismus, die Demokratie, den Marxismus und über die Diskrepanz zwischen Freiheitsbeschwörung und mangelhafter Nächstenliebe in den Ländern, die für die Emigranten zur ungewollten Heimat geworden waren. Bald ist es eine Aneinanderreihung von galgenhumorigen Witzen und privaten Erzählungen, bald eine Kritik der Ideologien im Schwejk-Stil. Doch Höhen und Tiefen gab es nicht.

Kein Geringerer als Erwin P i s c a t o r inszenierte die Dialogfolge, und auf der Bühne standen und saßen die Schauspieler und Kabarettisten Werner F i n c k und Willy Reichert. Diese Besetzung paßte vielleicht zu den beiden Namen „Ziffel“ und „Kalle“, die in einem Reminiszenzen an „Tiinnes und Schäl“ oder „Hein und Fietje“ wachriefen; doch zweifellos hätte der bissigen Emigrantenironie eine Inszenierung mit härteren und direkteren Typen im ganzen besser angestanden. Überraschend, daß ausgerechnet Piscator, der kämpferische Regisseur und (im Programmheft/) allzu vorbehaltlose Brecht-Enthusiast, bei dieser Szenenfolge einen so weichen Kurs steuerte. Selbst wenn sich in diesen Gesprächen eine Art Zellenteilung der Person Bert Brechts in den unverbindlich nonkonformistischen Intellektuellen und den marxistischen Klassenkämpfer vollzog, so hätte durch Kalauer und Galgenhumor mehr persönliche Betroffenheit durchklingen dürfen.

Was besagen diese „Flüchtlingsgespräche“ nun in der Auseinandersetzung um Bert Brecht in der gegenwärtigen Situation? Nun, sie gehören zu jenen Arbeiten des Dichters, bei welchen der Stoff nicht ins ideologische Dogma eingespannt ist. Im Gegenteil, sie sind sogar charakteristisch für jenen Brecht, der sich alle Türen zum Freimut offenhält. Die Lässigkeit, mit der hier beispielsweise die Verlegungen der Marxschen Ideen durch ihre Statthalter im 20. Jahrhundert ad absurdum geführt werden, dürfte kaum die Aufführungslust der Theaterleiter jenseits der Mauer anstacheln. Die zwei Seelen in der Brust des Dichters kommen am deutlichsten in det Schlußszene zum Ausdruck: Kalle ruft Ziffel feierlich zum Bekenntnis zum Sozialismus und zu seiner Verwirklichung auf. Ziffel aber macht, wie es im Szenentitel heißt, eine „ungenaue Bewegung“, die nichts weniger besagen soll als die Distanzierung des Physikers von aller Art doktrinärer Verfolgung des Ziels. Geht nicht der gleiche unüberbrückbare Riß durch das Gesamtwerk Brechts: „Jasager“ kontra „Neinsager“, „Simone Machard“ kontra „Prozeß der Jeanne d'Arc“?

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