6642638-1958_04_10.jpg
Digital In Arbeit

Stichproben mit Gorki und Brecht

Werbung
Werbung
Werbung

Die Hauptaufgaben des Theaters heißen Bewahrung des klassischen Gutes und Auseinandersetzung mit dem Jetzt und Hier. Daneben aber gibt es noch einen dritten wichtigen Auftrag an das Theater: die kritische Konfrontation der Gegenwart mit der dramatischen Aussage der Generation von gestern und vorgestern. So prüfte man in letzter Zeit zum Beispiel Strindberg oder Barlach auf ihre Wirkung in der Gegenwart, und so wird man in zwanzig Jahren vielleicht Sartre und Claudel auf ihre Zeitlosigkeit hin erproben. Einer solchen Prüfung und Sichtung dienten dieser Tage die Neuinszenierungen von Maxim G o r k i s „Nachtasyl“ im Münchener Residenztheater und Bert Brechts Oper „Aufstieg und Fall der Stadt M a h a g o n n y“ mit der Musik von Kurt W e i 11 im Landestheater Darmstadt.

Gorki und Brecht bekannten sich beide zum Kommunismus. Gestrenge Kritiker werden daher vielleicht fragen, ob es tunlich ist, diese Aktualitäten von vorgestern auszukramen. Doch gibt es, wie zum Beispiel Jürgen Rühles ausgezeichnete Darstellung des kommunistischen Theaters in dem Buch „Gefesseltes Theater“ beweist, auch im Theater mit „Rotlicht an der Rampe“ eminente Unterschiede. Das gegenwärtige, noch keineswegs von „Tauwetter“ erlöste Theater hinterm Eisernen Vorhang mit seinen „Auf-bau“stücken im Stil des „sozialistischen Realismus“ ist reinstes Zweck- und Propagandatheater. Es sagt nichts über den Menschen, sondern nur über Parteilinie, Plansoll und statistischen Nutzeffekt aus. Dieser Dramatik ging voran das „Revolutionsstück“, eine dramatische Spezies, der neben politischer Wucht doch auch noch künstlerische Impulse abzulesen waren. Sie interessiert uns heute höchstens noch aus historischen Gründen. Ihr wiederum ging eine Theaterepoche voraus, deren Hauptanliegen die soziale Zustandsschilderung und die Gesellschaftskritik war und deren Akzent noch keineswegs auf einer zwangsläufigen Bekehrung zum Kommunismus lag. Im Gegenteil, auch die kommunistischen Autoren sahen hier noch den Menschen als den Wertträger ihrer Stücke an: in Gorkis Abbildung einer Asylwelt der Gescheiterten wie in Brechts Demonstration der Uebermacht des Geldes.

Werner Düggelin hatte in München Gorkis

„Nachtasyl“ (das 1902 bei seiner Uraufführung in Stanislawskys Künstlerischem Theater in Moskau eine leidenschaftliche Anteilnahme des bürgerlichen Publikums gefunden hatte) nicht in seinem russischem Kolorit belassen, sondern ansatzweise versucht, das Geschehen zu neutralisieren. Er nahm vielleicht an, daß er die Spiegelungen der Ideen vom Wunderbringer Luka bis zum Rationalisten Bubnow und zum Nietzscheaner Satin damit besser herausarbeiten könne. Er irrte sich damit. Auch die abstrakten Ideen, die hinter diesen russischen Slum-typen stehen, sind auf das spezifisch Russische angewiesen; ähnlich wie Gerhart Hauptmanns Gestalten das schlesische Kolorit nicht entbehren können. Freilich schränkte noch ein zweiter Umstand den Effekt des Stückes ein. Anno 195 8 ist das Klima der Gorkischen Asylarmut allzu fern vom Lebensklima des heutigen Schauspielers. Er kann es nur mimen, aber nicht mit jenem Atem beleben, den das Stück braucht.

Anders liegen die Dinge bei Brechts „M a h a-g o n n y“ - O p e r. Darin klingen Themen an, die auch den heutigen Zeitgenossen angehen. Wir wissen zum Beispiel sehr wohl, daß hinter der produk-

tionsfreudigen Wirtschaft von heute keineswegs überall eitel Liebe und Güte regieren. Die Satire vom „Essen, Lieben, Spiel und Saufen“ unter der Devise „Dürfen darfst du alles, wenn du Geld hast“ ist kein geistiges Exklusiveigentum des Kommunismus, sondern eine Provokation unseres Gewissens, der wir uns nicht mit dem Hinweis auf die Doktrin des Autors entziehen sollten Um so weniger, als sie im Stück selbst gar nicht verfochten wird. Harro Dicks inszenierte das utopische Sündenbabel in der nordamerikanischen Steppe mit viel Sinn für Brechts Demonstrationsstil. Wenn er in den Songs die peitschende Leidenschaft nicht so aufklingen ließ wie vermutlich 1930 bei der turbulenten Leipziger Uraufführung, so geschah das sicher nicht, um das Publikum zu schonen, sondern in der Erkenntnis der Grenzen einer outrierten Betonung. Daß übrigens ein großer Anteil an der Wirkung dieser Oper dem Komponisten Weill zukommt, wird einem um so bewußter, je mehr man sich die dramaturgische Lässigkeit Brechts in der Gestaltung der Handlung vor Augen hält.

Wie immer auch die beiden Aufführungen auf den Zeitgenossen von 195 8 gewirkt haben, außer Zweifel steht doch, daß Gorki und Brecht ihren Platz im Repertoire des Welttheaters behalten werden, und sei es nur, um uns dazu zu zwingen, Farbe zu bekennen und Position zu beziehen.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung