6684579-1962_10_11.jpg
Digital In Arbeit

Unbekanntes Irland

Werbung
Werbung
Werbung

GRÜNE INSEL. Meistererzählungen aus Irland von James Joyce bis James Plunkett. Auswahl, Vorwort und Übersetzung von Elisabeth Schnack. Eine Diogenes-Anthologie. Diogenes-Verlag, Zürich, 1961. 409 Seiten. Preis 22.80 sfr.

Irland ist die Insel im Westen Europas, wohin sich heute Ströme von deutschen Touristen und Landmaklem ergießen; neuerdings bekannt durch das „Irische Tagebuch“ von Heinrich Boll. Man kennt die „Grüne Insel“ mit ihren sanften Hügeln, man kennt die kleinen irischen Pferde von den Weltspringturnieren, und man kennt auch die irische Literatur: Yeats, Joyce und Becke; O'Connor, O'Flaherty und O'Faolain. Doch man kennt damit weder Irland noch die irische Literatur. 19 Schriftsteller sind mit Erzählungen in dieser Anthologie vertreten, und dabei sind das noch nicht alle bekannten irischen Autoren (so fehlen zum Beispiel Yeats und Beckett). Viele der jüngeren werden in dieser Auswahl dem deutschen Leser erstmals in einer Ubersetzung zugänglich gemacht.

Auch die Insel selbst, die Landschaft und die Geschichte, werden einem neu erschlossen. Die Kusinen Somerville and Ross erzählen die humoristisch-schrulligen Geschichten aus der Zeit des angloirischen Landadels, den unermeßlich großen Gütern, den rassigen Pferdeherden. Die übrigen Erzählungen sind bewußt antienglisch und spiegeln somit die Zeit nach der Befreiung von 1916 wider. In diesen Geschichten wird das einfache und harte Leben der Gebirgsbauern, der Fischer und der Landlosen geschildert. Immer wieder treibt die Armut zur Auswanderung nach Amerika.

Amerika, beinahe glauben die Iren es zu sehen, über die an die Felsen der Küste antobenden Wogen des Atlantiks hinweg; und schon viele Jugendliche zogen hinüber, da sie den Lärm der Freude und des Glücks von drüben zu hören vermeinten. George Moore hat in seiner Geschichte „Heimweh“ * diese Sehnsucht nach drüben und das Heimwehr zurück nach der „Grünen Insel“ ergreifend geschildert.

Es sind realistische Erzählungen des Lebenskampfes, der Sorgen und des Alltags, und doch schwingt in allen jener herbe lyrische Ton irischer Erzählkunst mit. Dies gibt den Geschichten oft einen fast unwirklichen, zwiespältigen Hintergrund. In Anthony C Wests Kurzgeschichte „Stromes Ende“ geht Prosa beinahe schon in Gesang über und erinnert an die lyrischen Dramen von Dylan Thomas aus dem nachbarlichen Wales. ; Besonders stark tritt uns das Schreiben in zwei Ebenen oder das Erleben in zwei Wirklichkeiten bei James Joyces „Die Toten“ entgegen. Ein großartiges Fest wird mit allen Einzelheiten genau beschrieben, jeder Gedanke wird gleichsam festgehalten, um zu schildern, wie es wirklich war. Und dann: eine einzige Melodie, eine aufflackernde Erinnerung an einen längst Verstorbenen zerreißt die Oberfläche von Ereignissen und läßt auf einmal die Nichtigkeit und die Scheinwelt aller Gedanken, aller Worte und Taten erkennen.

Wenn auch in den Geschichten der jüngeren Autoren (Sheehy, Kennedy, Mon-tague, Plunkett) die Schilderung der irischen Landschaft zurücktritt und statt dessen von Städten des Irgendwo erzählt wird, so geschieht dies nur äußerlich und scheinbar. Die „Grüne Insel“ und die rauhe Poesie ihrer Einwohner, die manch-nal sich mit dem Gesang der Brandung vermischt, ersteht in jeder Geschichte neu und hinterläßt im Leser einen Nachklang hrer wehmütig-freudigen Lebensbejahung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung