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Ein nordischer Dostojewski

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Er war „der Größte" — so sagte einmal Thomas Mann von Knut Hamsun. Keiner seiner Romane ist veraltet. Sie leben so stark wie vor 20, wie vor 50 Jahren, denn sie kreisen alle um das einzig wichtige Thema der Dichtung: um das hilflos dem Leben ausgelieferte Selbst. Hamsun hat den Gegensatz im Menschen, der sowohl ein Stück Natur wie ein an die künstliche Welt gefesseltes Wesen ist, mit rücksichtsloser Realistik geschildert. Er war eine gewaltige und zugleich gewaltsame Naturerscheinung unter den Dichtern. Es gibt keinen Satz in seinen Büchern, den man nicht verstehen könnte, aber alle Sätze insgesamt bleiben wie ein Geheimnis seiner schöpferischen Kraft.

Wie die Briefe zeigen, die Hamsun während 30 Jahren an seine Frau geschrieben hat, gehörte viel Kraft und Liebe dazu, mit einem solchen Mann eine Ehe zu führen. Die Zerrissenheit sedner Existenz war nicht inmitten der Humanitas, sondem an den Grenzen der Barbarei verwurzelt. Er konnte grob werden und zart sein, war rücksdchtsios und rücksichtsvoll, grausam und gütig. Er kannte seinen Wert und stellte sidi bescheiden hinter seinen Lehrmeister Dostojewski. Er haßte seinen Beruf, verachtete die „Schriftstellerei" zutiefst, deklarierte sich am liebsten als „Bauer" auf dem verfallenden Gut Nörholm — und konnte doch nicht ohne das Schreiben leben, so daß er sich immer wieder von Frau und Kindem, von den praktischen Geschäften seines Hofes losriß, um irgendwo in der Einsamkeit an einem neuen Buch zu arbeiten. Stets hatte er Angst, daß „kalte Luft an seine großen glühenden Eisen" kommen könnte. Anfang 1915: „… mir geht es auch so schlecht mit der Arbeit, daß ich todtraurig bin … So schlimm wie jetzt war es noch nie." Und alle die Jahre so etwa Mitte 1935: „ … Wenn ich nur dieses eine Buch fertigbrächte. Es ging so gut voran damit, aber in den letzten Wochen ist es vollständig mißlungen."

Über sein Werk selbst erfährt man kaum etwas. Seine Bücher, so dachte er wohl, bedurften keiner Erklärung. Die faszinierend schwärmerischen Briefe um die umworbene Marie zu Beginn — das ist der Hamsun der Victoria, des Pan, der funkelnden und stürmisch, der eruptiv und hemmungslos geschriebenen Mysterien (Hamsuns „Werther") — weichen dann den Berichten über Realitäten des Alltags, die Familie, das Gut betreffend. Die Frau hatte die notwendigen Schwankungen einer grausamen Sensibilität nicht nur zu £r-tragen, sondem auch aufzufangen und zu glätten. Ihre Liebe gehörte zu der Atmosphäre, die er haben mußte. „Das Glück, das ich ihm vielleicht gab, war nur ein Mittel, aber kein Zweck", schrieb sie in ihrer Autobiographie. Sie hatte an seiner Seite „ausgehalten", wie er sie anfangs bestürmt hatte, von der Höhe literarischen Ruhms des Fünfzig-

jährigen zu dem grotesken Sturz des Fünfundachtzigjährigen in die Tiefp des politischen Gerichts bis zum Tod des fast erblindeten und taub gewordenen Dreiundneunzigj ährigen.

BRIEFE AN MARIE. Von Knut Hamsun. Eingeleitet und herauS’ gegeben von Tore Hamsun. Paul-List-Verlag, München. 362 Seiten. DM 26.—.

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