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Unter dem Halbmond und sudlichen Sternen

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Das schönste Reisebuch, das ich je gelesen habe, sind die „R e i s e b i 1 d e r“ von Knut Hamsun. Unter diesem Titel gibt der Verlag Albert Längen-Georg Müller in München Hamsuns Reisetagebücher „Im Märchenland“ und „Unter dem Halbmond“ heraus. „Im Märchenland“ schildert eine Fahrt durch Rußland, von St. Petersburg nach Tiflis, Baku und Batum und zum Schwarzen Meer, „Unter dem Halbmond“ sind Aufzeichnungen aus Konstantinopel. Hamsun unternahm diese Reise 1899, im Alter von 40 Jahren, und die beiden Bücher entstanden kurz darnach. Er fuhr mit der Bahn und mit dem Pferdewagen, unternahm Ritte und streifte zu Fuß herum; der Orient hatte für ihn, den Nordländer, eine eigene Anziehung, immer wieder sagte er, daß er am liebsten dableiben und nie mehr fortgehen würde; was ihn besonders anzog, war die wilde Ursprünglichkeit des südlichen Rußlands, hier schien die Zivilisation für immer in primitiven Anfängen steckenbleiben zu müssen. Hamsun ist ein scharfer Beobachter, umreißt mit paar Strichen die Menschen, denen er begegnet, die Städte, die er mit seiner jungen Frau besucht (er hatte im Jahr zuvor geheiratet); über alles macht er sich seine eigenen Gedanken und gibt sehr persönliche Anmerkungen von jener melancholischen Ironie, die wir so an ihm lieben. Im Kaukasus schreibt er:

„Dieses Volk hier hat Kampfe ausgehalten, die es zu verderben drohten, aber es hat alles über wunden, es ist stark und gesund und blühend und ist heute alles in allem ein Volk von zehn Millionen. Freilich kennt der Kaukasier nicht die Hausse und Baisse der New-Yorker Börse, sein Leben ist kein Wettlauf, er hat Zeit zu leben und kann sich seine Nahrung von den Bäumen schütteln oder sein Schaf schlachten, um davon zu leben. Aber sind nicht die Europäer und die Yankees größere Menschen? Gott weiß es. Gott und kein anderer weiß es, so zweifelhaft ist das. Einige sind groß, weil die Umgebung klein ist, weil das Jahrhundert trotz allem klein ist. Ich denke an große Namen, allein innerhalb meines eigenen Fachs, viele Nummern in einer langen Reihe, Mitglieder des Proletariats der Genies. Ich tausche gern ein Dutzend von ihnen bloß gegen das Pferd von Marengo ein. Werte haben beweglichen Wert: Theaternimbus dort entspricht glänzendem Gürtel hier, und beide verschlingt die Zeit, beide wechselt die Zeit um in andere Werte. Kaukasien, Kau-kasien!“

Hamsun unternahm diese Reise mit einem Staatsstipendium; ein ähnlicher Glücksfall ermöglichte Harold Nicolsons „Reise nach lava“: zu seinem 70. Geburtstag schenkten ihm seine Freunde „einen ungeheuer großen Scheck“, den er für diese Reise verwendete. Das Tagebuch dieser Reise, zugleich eines der geistreichsten Bücher über das Glück des Menschen, widmete er diesen Freunden, denen er „zwei der schönsten Monate verdanke, die ich in einem Leben völlig unverdienten Glücks je genossen habe“. Ob Staatsstipendium oder großer Scheck der Freunde: man sollte Dichter reisen lassen; letztlich sind wir alle es, die beschenkt werden. *

Ein Reisebuch anderer Art ist das von Thomas Münster: „Kreta hat andere Sterne.“ Neben die Wiedergabe eigener Impressionen tritt hier der bewußte Wille, ein möglichst vielseitiges und exaktes Bild der Insel zu geben; so erzählt Thomas Münster kretische Legenden, wie die vom Mann namens Zan, der die erste Lyra gebaut hat, das Nationalinstrument der Kreter; seither darf kein Mensch und kein Gott den Kretern das Singen und das Musizieren verbieten. Aus einer Fülle kleiner Beobachtungen gibt Thomas Münster ein Bild des beutigen Kreta: da hören wir vom Verkehrspolizisten in Heraklion, der stets allen Fahrzeugen durch Kopfnicken und Winken die Kreuzung freigibt, ganz gleich, von wo sie kommen: von ihm aus dürfen sie fahren, wer zuerst über die Kreuzung fährt, mögen sie sich untereinander ausmachen! Oder vom Leben des kleinen Karrenjungen Nikolaos Mavrodakis, der es schließlich zum „Verlobten“ einer blonden Malerin aus dem Norden brachte, und wie sie seinen Stolz verletzte, als sie an ihm herumzumäkeln begann. So entsteht ein lebendiges Bild des heutigen Kreta, deutlicher und eindringlicher als es Statistiken, Zahlen und Daten geben könnten.

Auf den Spuren des Odysseus, von Troja nach Ithaka, reiste Louis G o I d i n g, und in sein Buch „Leb wohl, Ithaka“ blendet er auch immer wieder Episoden der homerischen Odyssee ein. In ihrer Lebhaftigkeit fesselt aber vor allem die Schilderung der jetzigen Zustände. So schreibt Gol-ding über Ithaka: „Trotz dem Ruhm und der großen Schönheit der Insel hat Ithaka keinen Touristenverkehr — es sei denn, es gäbe inzwischen erheblich mehr Unterkünfte als Anastasias bescheidene Herberge. Nicht eine einzige Postkarte von dem Ort bekommt man zu kaufen. Die Inselbewohner pflegen ihre Reben und pressen ihre Oliven, sie hüten die Ziegen und fahren zum Fischen hinaus. Wenn jemand Lust hat, zu arbeiten, arbeitet er. Wenn nicht, dann läßt er es. Wenn die Geschäftsinhaber aus den kleinen Straßen hinter dem Platz zu den Cafes herüberkommen, um ein Glas zu trinken oder ein Spielchen zu machen, dann weiß jeder, der vielleicht gerade ein Pfund Kerzen oder ein Paar Pantoffeln braucht, ganz genau, wo er sie findet.“

Durch seine konsequenten Bemühungen und die sorgfältige Ausstattung aller Bände ist Albert Längen-Georg Müller heute im deutschsprachigen Raum der führende Verlag auf dem Gebiet des literarischen Reisebuchs geworden.

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