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Wasser ins Meer

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„DIE LANDSTREICHERROM ANE“ von Knut Hamsun. Aus dem Norwegischen von J. Sandmeier und S. Angermann. Paiul-List-V'erlag 1969. Romantrilogie (Landstreicher, Auf-gust Weltumsegier, Nach Jahr und Tag), 917 Seiten. In „Die Bücher der Neunzehn“, Band 180. DM 14.80.

Knut Hamsun schätzte das Alter nicht, haßte es wohl gar und machte sich, selbst alt geworden, darüber lustig: Er sei nicht weise geworden, wie man ihm versichere, nur alt. Die drei Romane, die der Siebzigjährige schrieb und die nun wieder in einer wohlfeilen Ausgabe erscheinen, strafen diese Ansicht Lügen. Könnten sie doch nicht weiser erdacht, komponiert und geschrieben sein. Ganz abgesehen von der Weisheit, die sich darin ausspricht. Wo anfangen mit dem Bewundern? Bei der Charakterzeichnung, den Naturschilderungen, beim Dialog? Es: ist alles meisterlich an diesen Webstücken mit dem geometrisch anmutenden durch-

gehenden norwegischen Muster. Doch Hamsun loben heißt Wasser ins Meer schütten.

Eine andere Frage ist: Mag man ihn heute noch lesen? Oder ist er nur noch Literatur, Stoff für Dissertationen? Hat man die erste Seite nur gelesen — sie ist freilich die schönste — weiß man es: Diesem Erzähler kann die Zeit nichts anhaben. Er kennt das Geheimnis aller großen Erzähler (nach Th. Mann): die Gründlichkeit. Doch daß nur gründlich Erzählen Erzählen ist, ist eine große Tautologie. Man darf auch beim Zählen keine Zahl auslassen. Wie dem auch sei: Ja, man kann Hamsun heute noch lesen. Der Strom, der einen mitreißt, wird niemals schwach. Aus immer neuen Quellen gespeist, hält er durch bis zum Schluß. Der Joyce- und Musil-Leser, der sich, hier lesend, zu kasteien glaubt, hat viel verlernt: das Intellektuelle nur als Teil des Geistigen zu sehen.

Auflehnung, Rebellion, Bruch mit allen Konventionen, Bändigung der gewalttätigsten Temperamente, die je zu Pinsel und Farbe gegriffen haben — das alles kann als Synonym gesetzt werden für: moderne mexikanische Wandmalerei. Ihre Großen, Rivera, Oroczo, Siqueiros, sind in Europa nicht sehr populär, obwohl sie ihre malenden europäischen Zeitgenossen, von denen sie lernten, ihrerseits tief beeinflußt haben. Zweifellos haben sie der Weltkunst mehr gegeben als sie von ihr empfingen. Ihr großer Lehrmeister war eher Jose Guadalupe Posada, Mestize, Töpferlehrling, Autodidakt, ein Mann mit braunem Teint und riesigem schwarzem Schnurrbart, der in einem winzigen Laden saß und vor aller Augen arbeitete. Seine Kupferstiche hießen „Das Elend“, „Der Aufkäufer“, „Studentenunruhen“, „Das herrschende Element“ (Abb.: Calavera Zapastista) und so weiter, er schuf aus dem Volk für das Volk, ein großer Teil seiner 15.000 Blätter erschien in der „Straßenzeitung“, dem Blatt mit der ungewöhnlichen Erscheinungsweise: „Wenn aufsehenerregende Ereignisse es notwendig machen.“ Die akademischen Maler verachteten ihn, die Kritiker ignorierten ihn, aber Posada wurde der große Mittler zwischen der blutigen, wilden Kunst des präkolumbischen Mexiko und der Kunst des modernen, revolutionären, zum Bewußtsein seiner Kraft und Eigenart erwachten Mexiko des zwanzigsten Jahrhunderts. Den Künstlern dieses Mexiko wurde jede Leinwand zu klein, sie brauchten Häuserwände, und es zählt zu den Kunstgriffen dieser wilden, dynamischen, gewaltigen Schule, dem Beschauer das Gefühl zu vermitteln, die Figuren sprengten selbst noch den durch die Höhe der Innenräume gesetzten Rahmen oder würden zwischen Decke und Fußboden erdrückt. Das hervorragend ausgestattete, mit enormer Sachkenntnis, ohne propagandistische Fleißaufgaben verfaßte Werk aus Dresden öffnet, um mit Malraux zu sprechen, dem Uninformierten einen neuen Saal im musee imaginaire. Es ist ein Buch, das zu rebellischen Gedanken inspiriert. Manchen vielleicht auch zu ängstlichen Gedanken.

Antonio Rodriguez. Wandmalerei in Mexiko. VEB Verlag der Kunst, Dresden. Leinen, 258 Seiten Text, 131 Textabbildungen, 260 Abbildungen auf Kunstdrucktafeln, zum Teil farbig. DM 78.—.

Hellmut Butterweck

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