6863899-1977_47_11.jpg
Digital In Arbeit

Kritik der Utopie

Werbung
Werbung
Werbung

Die internationale politische Lage ist von Denkstrukturen bestimmt, die zwangsläufig zu den bekannten Problemen führen. Sie wird allgemein von der Allzuständigkeit technischer Rationalität bestimmt, unabhängig von politischer Orientierung und Blockzugehörigkeit. Gegenüber dieser Stellung der technischen Rationalität erscheinen Denkansätze, die die Politik anders denn als möglichst perfekte Beherrschung von Sachen und Menschen im Bürokratiestil ansehen, in hoffnungsloser geschichtlicher Defensive.

Robert Spaemann formuliert „rationale Einwände gegen die abstrakte Utopie radikal-empanzipatorischer Vernunftherrschaft”. Er untersucht, wie es dazu kommen konnte, daß im Namen der Vernunft jede Schrek- kensherrschaft legitimiert erscheinen kann. Die politischen Argumentationen, die sich auf Rousseau und Marx berufen, gehen davon aus, daß politisches Handeln aufgrund eines Diskurses, der eine gemeinsame Interessenlage zum Gegenstand hat, erfolgt. Voraussetzung zur Teilnahme am Diskurs ist das richtige Bewußtsein. Die Teilnehmer des Diskurses haben sich mit größter Selbstverständlichkeit zur ausschließlich stimmberechtigten Gruppe erklärt. Wer das richtige Bewußtsein nicht hat, hat nichts zu reden. Er kann, sollte er es dennoch wagen, zu sprechen, bedenkenlos liquidiert werden.

Die Utopie der Vemunftherrschaft führt zu schrankenloser Gewalt, weil sie die Bedingungen, unter denen vernünftiger Konsens Zustandekommen kann, außer acht läßt. Es wird unterschlagen, daß politischer Konsens nicht nach dem Muster des mehr oder weniger kontinuierlich fortschreitenden wissenschaftlichen Diskussionsstandes zustandekommt, sondern unter den Beschränkungen, die mit dem Entscheidungsdruck, von den Bedingungen physischer Präsenz ‘Zusammenhängen.

Im zwischenmenschlichen Bereich wie überhaupt gilt, daß das Überschreiten einer kritischen Grenze der Beherrschung Nebenfolgen nach sich zieht, die den .Bestand zwischenmenschlicher Kommunikation oder der Natur gefährden. Vernunft, die ihre Grenzen und Voraussetzungen außer acht läßt, zerstört. Spaemanns Aufsatzsammlung vermittelt einen Einblick in die Absurdität und Gefährlichkeit von einflußreichen Argumentationen der jüngeren Vergangenheit.

„Die Rekonstruktion der politischen Urteilskraft”, ein Hannah Arendt gedenkendes Buch von Emst Vollrath, handelt vom Grundsatz republikanischer Gesetzmäßigkeit: „Handle so, daß jederzeit dein und aller anderen Menschen Handeln möglich bleibt, d.h. daß eine Welt von Menschen bewahrt bleibt.” Vollrath sieht in der neuzeitlichen Weltentfremdung des Menschen den Hintergrund der Zerstörung der politischen Urteilskraft und des politischen Gemeinsinnes. In der herrschenden Auffassung von Politik geht es um den Versuch, menschliches Handeln in das Schema eines wissenschaftlich organisierten arbeitsteiligen Prozesses zu bannen. Menschliches Handeln wird damit auf Administration und Konsumieren reduziert.

Vollrath schlägt vor, im Anschluß an Kants Bestimmung der Urteilskraft, den Bereich politischen Handelns wieder zu entdecken. Theoretisch-objektive Erkenntnis ist in praktischer Hinsicht auf die Urteilskraft angewiesen, die Gemeinschaftlichkeit, Öffentlichkeit und Freiheit - und damit politisches Handeln ermöglicht. Die Welt wird als Ort gemeinsamen Handelns, nicht als Front der Durchsetzung abstrakter Interessen erfahren.

ZUR KRITIK DER POLITISCHEN UTOPIE. Zehn Kapitel politischer Philosophie. Von Robert Spaemann. Ernst Klett-Verlag, Stuttgart. 212 Seiten, ö S 223,60

DIE REKONSTRUKTION DER POLITISCHEN URTEILSKRAFT. Von Ernst Vollrath. Ernst Klett-Verlag, Stuttgart, 247 Seiten, ö S 377,30

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung