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DAS THEATER DES JEAN VILAR

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Wir überlassen das Geniale den andern. Aber wir haben Geduld ... Die Politik ist das Schicksal? — Nicht für uns. Wir brauchen eine Unterkunft für unsere Familie und eine zweite, um unseren Beruf auszuüben: ein Dach, unter dem wir eine Bühne aufschlagen können.“

Der Mann, von dem diese Sätze stammen, ist der Leiter eines der größten Theaterunternehmen Frankreichs, des „Theätre National Populaire“. Jean Vilar wurde 1912 in Sete geboren, war mit zwölf Jahren Violinspieler in einem Tanzorchester, studierte Literaturwissenschaft und trat anschließend in das Atelier von Charles Dullin ein. Die Jahre 1937 bis 1940 verbrachte er beim Militär, dann zog er mit einer Wanderbühne durch 150 französische Dörfer und kleine Städte. Im Jahre 1943 gründete Vilar eine eigene Truppe, „La compagnie des Sept“, und bereits zwei Jahre spater hat er die ersten durchschlagenden Erfolge: mit Strindbergs „Totentanz“, den er 150mal, und mit Elliots „Mord im Dom“, den er 230mal spielen konnte. — In den folgenden Jahren führt Vilar, neben klassischen Autoren, unter denen Shakespeare eine bevorzugte Stellung einnimmt, zahlreiche Zeitgenossen auf: Claudel, Pirandello, Sartre, Anouilh, Koestler, Supervielle und Adamow. 1947 veranstaltet Jean Vilar das 1. Festival d'Art dramatique in Avignon, wo er seither, Jahr für Jahr, mit seiner Truppe gastiert. — In der Zwischenzeit (1951) wurde er zum ständigen Leiter jenes großen Unternehmens berufen, mit dem seither sein Name verknüpft ist: dem

„Theätre National Populaire“.

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Dessen Vorgeschichte ist interessant genug. Bereits 1920 bedauerte Paul Boncour das Fehlen eines französischen Nationaltheaters für die breiten Volksschichten und brachte einen Gesetzentwurf zu seiner Gründung ein. Sitz sollte das ehemalige Weltausstellungsgf 'de, der „Trocadero“, sein. Auch Aristide Briand setzte sich für ein französisches Volkstheater ein, worüber derjenige nicht erstaunt sein wird, der weiß, daß Leon Blum- ein angesehener Theaterkritiker war, daß Clemenceau ein erfolgreiches Theaterstück geschrieben hat und daß Herriot und Leon Daudet eminente Theaterkenner waren. (Das Interesse der französischen Staatsmänner fürs Theater ist also gewissermaßen notorisch.) Der erste, welcher mit der Leitung der Neugründung betraut wurde, war Firmin Gemier (bis 1933). Nachdem 1935 der Trocadero abgetragen worden war, fand 1939 eine zweite Einweihung des nationalfranzösischen Volkstheaters statt, und zwar im Palais Chaillot. Nach verschiedenen Direktoren wurde schließlich Jean Vilar zum Leiter des „Theätre National Populaire“ bestellt.

Das Unternehmen wird vom Staat großzügig unterstützt. Die Verpflichtung lautet auf 150 Aufführungen jährlich in Paris und Umgebung zu volkstümlichen Preisen (100 bis 400 Francs = 6 bis 24 Schilling). Diese Aufgabe erfüllt Jean Vilar mit einer Truppe, die aus 20 bis 25 Mitgliedern besteht, deren Durchschnittsalter 31 Jahre beträgt. — In diesem Ensemble finden wir hochberühmte Namen neben solchen von jungen, aufstrebenden Talenten: Maria Casares, Monique Chaumette, Laurence Badie, Lucienne Le Marchand, Gerard Philipe, Yves Gase, Coussonneau, Roger Mollien, Georges Wilson und — Jean Vilar, der große Komödiant, der an zwei aufeinanderfolgenden Abenden den König Oedipus in Andre Gides Stück und den Hermoerate in „Le triomphe de l'amour“ von Marivaux spielt...

Zu seinen Schauspielern hat Vilar ein besonderes Verhältnis, das aus seinen Gedanken über die Rolle der Regie und des Regisseurs resultiert. Vilar ist nämlich gegen jedes Inszenierungssystem. Jede Aufführung ist der Kompromiß zwischen den visuellen und optischen Vorstellungen des Spielleiters und der lebendigen, wie er sagt: „anarchischen“ Realität der einzelnen Schauspielerpersönlichkeiten. Vor der ersten Probe gibt es für Vilar nichts Definitives, nichts Bestimmtes: „Ich habe keine Notizen, keinen Zettel, keinen Plan. Nichts in der Hand, nichts in der Tasche.“ Die Inszenierung formt sich ganz allmählich bei den Proben. Von diesen (etwa 40) sind mindestens 15 reine Leseproben. Sie dienen dazu, den Sinn dessen, was der Dichter sagen will, ganz und gründlich zu erfassen, dagegen jede Routine und Versteifung zu vermeiden. Vilar arbeitet geduldig und langsam. Um verstanden zu werden, muß er den Schauspieler ganz verstehen. Ja man muß, so meint Vilar, ihn lieben — auch wenn er nicht liebenswert ist. Denn von dem guten Willen der Darsteller ist ja alles abhängig. — Und wer Vilar einmal im Kreis der Seinen gesehen hat, wie er bei Tisch oder in Gesellschaft seinen Schauspielern aufmerksam zuhört, wie er an ihn gerichtete Fragen an seine Schauspieler weitergibt, der erkennt, daß das, was er über sein Verhältnis zu den Schauspielern sagt, keine Phrasen sind.

Daher treten Frankreichs beste Schauspieler gern in das Ensemble des „Theätre National Populaire“ ein, und Jean Vilar meint — ein seltenes Zeugnis in unserer Zeit der Stars und der Stargagen —, daß es keinen Beruf gäbe, wo man einen geringer entwickelten Sinn für Geld und einen lebhafteren für gute, befriedigende Arbeit habe, als beim Theater. Immer wieder fänden sich Künstler, junge und arrivierte, die unter einem Leiter, in einem Ensemble, das sie schätzen, um einen Bruchteil dessen arbeiten, was sie anderswo verdienen könnten.

Bei der Inszenierung gilt es, verschiedene Gefahren zu vermeiden. Vielleicht die schlimmste ist die „Dekoromanie“, ferner jede Art von Symbolismus. Den Raum „ausnützen“, „füllen“, ist irrig. Man soll ihn, dem Wort dienend, wovermeiden, daß die Bühne der Sammelplatz samtlicher großer und kleiner Künste wird: der Malerei, der Architektur, der Elektromanie, der Musikomanie, der Maschinerie und anderer. Das Theater ist zurückzuführen auf das “Wort und auf das Spiel der Akteure. Der Regisseur aber ist nicht „Schöpfer“, sondern nur der „Geburtshelfer des Dichters“ (der die Kinder eines anderen zur Welt bringen hilft).

Trotz dieser hohen Einschätzung des Dichters und des dichterischen Wortes ist Jean Vilar der Meinung, daß die großen Werke der Kunst heute nicht auf dem Gebiet des Theaters gelorengegangen: das Zauberische, Magische. Theaterstücke werden nämlich nicht von den Ausführenden geschaffen, sondern vom „Dialogschreiber“ : einem distinguierten und hochzivilisierten Herrn am Schreibtisch, vom „Autor“, der vielleicht eines Tages Präsident des Autörenverbandes werden wird . . .

Trotzdem ist kein Grund zur Resignation. Vilar hofft, im Gegenteil, immer breitere Schichten für da; Theater zu gewinnen. In Avignon, im riesigen Hof des Papstpalastes, spielt er seit elf Jahren, jeden Sommer, vor vielen tausend Menschen, darunter besonders vielen Jugendlichen, die hier zu , den „Re-contres Internationales des Jeunes“ zusammenströmen. Hier inszeniert er Stücke von Shakespeare und Moliere, Corneille und Hugo, Musset und Marivaux. Hier wurden Kleists „Prinz von Homburg“ und Büchners „Danton“ für Frankreich entdeckt, und hier hat er Claudel und Clavel, Gide und Montherlant, Tschechow und Brecht gespielt.

Und zwar keineswegs „asketisch“. Zwar werden Kulissen sparsam verwendet — denn die des Papstpalastes ist eine der großartigsten, die man sich vorstellen kann. Dagegen sind die Kostüme reich, bunt und von noblem Prunk. Hier hat Vilar auch den für ihn idealen Zuschauerraum: ohne jene Rangtrennung, welche die sozialen Unterschiede betont und die, nach Vilars Meinung, einer der Hauptgründe für die Theaterfferhdheit weiter Kreise ist. Denn Vilar will das neue, maßgebliche Publikum: er will die Arbeiter und Ingenieure, er will die jungen Soldaten und jede Art von Jugend, glückliche und unglückliche. Denn: „Lieber spiele ich vor leeren Bänken und zu meinem eigenen Vergnügen, als vor Leuten, deren einzige Qualifikation darin besteht, daß sie den festgesetzten Kartenpreis bezahlen können.“

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