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Breschen in der Insularität

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Nicht genug mit den rein finanziellen Problemen, die das britische Theater zur Zeit zu bewältigen versucht, hat es jetzt einen schweren Verlust hinnehmen müssen. Es muß für immer auf einen Mann verzichten, dessen Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Im Alter von kaum 54 Jahren ist im August in London der englische Impressario Sir Peter Daubeny gestorben, der nicht nur elf Jahre lang in der allein von ihm organisierten Londoner Welttheatersaison die Auslese internationaler Bühnenensembles nach London gebracht, sondern überhaupt durch sein gesamtes Wirken das Antlitz des britischen Theaters entscheidend verändert hat und maßgeblich dafür verantwortlich war, daß London zur Theaterhauptnstadt der Welt geworden ist.

Um diese scheinbar kühne Behauptung verständlich zu machen muß man ein wenig zurückgreifen. Wenn man heute vom „modernen Theater“ spricht — international gesehen —, so meint man damit im allgemeinen eine Bewegung, die schon an die hundert Jahre alt ist. Damals nämlich begann in vielen Teilen Europas die Geburt einer Reihe kleiner, aber unerhört bedeutungsvoller Avantgarde-Theater, die sich sehr bewußt gegen die Aussagen und gegen den Spiel- und Inszenierungsstil zur Wehr setzten, wie sie von den großen etablierten Bühnen ihrer jeweiligen Länder geboten wurden. Diese experimentellen Theater waren meist eng mit bedeutenden Dichtern und Schriftstellern verbunden, wie etwa Zola und das Theätre Libre in Paris, Tschechow und das Moskauer Künstlertheater oder Hauptmann und die Berliner Freie Bühne, um nur einige zu nennen. England fehlt in dieser Aufzählung; das britische Theater war viel länger als andere tief im 19. Jahrhundert verwurzelt, und der starke Einfluß des Lord Chamberlain, des öffentlichen Theaterzensors, war ein Mühlstein um den Hals jedes stürmenden und drängenden jungen englischen Dramatikers. Das damals hauptsächlich auf London konzentrierte Theaterleben stand unter dem Doppel-Unstern intellektueller Zaghaftigkeit und des Starkults. Mit einem Wort des bissigen Spötters Bernard Shaw: das damalige englische Theater war nicht der Ort, an dem intelligente Menschen einen Abend zu verbringen wünschten.

Wenn man also in England von „modernem Theater“ sprechen will, braucht man kaum 20 Jahre zurückzugehen — ja, man kann, wenn man ein wenig simplifiziert, seine Geburt chronologisch sogar ganz genau festlegen. Zwei Ereignisse standen dabei Pate, und beide fielen sie in das Jahr 1956. Damals kam es zunächst zur Gründung des Ensembles der English Stage Company im Londoner Royal Court Theater, auf dessen Geschichte näher einzugehen hier nicht Raum ist, das aber schon vorher und nun ganz besonders elementare und bahnbrechende Arbeit durch die Heranziehung und Förderung junger britischer Dramatiker, Regisseure und Schauspieler leistete, und damit einen Einfluß von profunder Bedeutung auf das ganze britische Theaterschaffen ausübte.

Das zweite wirklich charismatische Ereignis auf der englischen Theaterszene des Jahres 1956 war es, als der damals 35jährige Impresario Peter Daubeny eines der bedeutendsten Theater Europas, das Berliner Ensemble Bert Brechts, mit drei vollständigen Inszenierungen nach London brachte. Über Brechts Einfluß auf das Welttheater braucht heute nicht mehr gesprochen zu werden, aber die Auswirkungen dieses Berliner Gastspiels auf das englische Bühnenschaffen waren ebenfalls ganz enorm: ungeahnte neue Perspektiven eröffneten sich für alle Theaterschaffenden, sie lernten ein künstlerisches Denken in sozialwissenschaftlichen Kategorien — es war eine echte Revolution!

Und das alles nur mit einer Hand! Peter Daubeny, als Sohn britischer Eltern in Wiesbaden geboren, hatte nämlich schon als 22jähriger im Krieg an der italienischen Front den linken Arm verloren, wodurch auch seinen anfänglichen schauspielerischen Ambitionen ein jähes Ende gesetzt worden war. Aber wenn das britische Theater dadurch auch einen Schauspieler verloren hatte, so hat es durch den Impresario Daubeny ungleich mehr gewonnen. Schon lange vor dem berühmten Brecht-Gastspiel hatte dieser unerhört tatkräftige und theater-sachverständige Mann damit begonnen, Breschen in die Insularität des englischen Theaterlebens zu schlagen, durch die Organisation zahlreicher europäischer, amerikanischer und sogar indischer und japanischer Gastspiele in London.

Aber es waren bestimmt die letzten zwölf Jahre seines Lebens, die für Peter Daubeny selbst die Krönung seiner unermüdlichen Arbeit waren, wenn sie vielleicht auch den Keim für sein allzu frühes Ende in sich trugen. Er war immer schon von schwacher Gesundheit gewesen, und als er im Jahre 1964 auf Einladung der Royal Shakespeare Company die Organisation der ersten dreimonatigen Welttheatersaison in London übernahm, da wußte er genau, welche exzessive Arbeitslast er damit auf sich nahm. Die nahezu pausenlosen Reisen in alle Theaterstädte der Welt, wobei er die internationale Theaterszene erforschte wie kaum ein anderer vor ihm, die schwierigen Verhandlungen, die enorme Organisationsarbeit in London selbst, all das untergrub seine zarte Konstitution immer mehr. Seine Erfolge waren einzigartig: in seinen insgesamt elf Welttheatersaisons hat Peter Daubeny 46 Ensembles aus 20 Ländern mit zusammen über 150 Inszenierungen nach London gebracht, vom Wiener Burgtheater bis zu den japanischen Noh-Spie-len. Das begeisterte Londoner Publikum hat es ihm gedankt mit ausverkauften Häusern in seinem geliebten Aldwych-Theater, die englische Königin mit der Erhebung in den Adelsstand im Jahre 1973. Sir Peter Daubeny selbst aber hat seine Erfolge nun mit seinem Leben bezahlt, und das britische Theater ist um einen seiner bedeutendsten Männer ärmer geworden.

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