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Der Bischof im Narrenhaus

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Eines Tages bekam Bischof May, der zweite Bischof der evangelisch-lutherischen Kir- . che in Österreich, einen Anruf. Er sollte einen Patienten in der geschlossenen Abteilung eines psychiatrischen Krankenhauses besuchen. Da der Bischof den Mann aus früherer Zeit kannte, kam er dieser Bitte gern nach.

Lange sprachen die beiden miteinander. Der Bischof hat sich richtig verplaudert. Schleunigst nahm er Abschied, doch er konnte das Krankenzimmer nicht verlassen. Türen in einer geschlossenen Abteilung haben bekanntlich keine Klinken - und vom Pflegepersonal war weit und breit niemand zu sehen.

In seiner Batlosigkeit begann er gegen die Tür zu trommeln. Endlich - nach einiger Zeit kam jemand und rief beruhigend: „Na, was ist denn los da, warum machen S' denn so an Wirbel?" Daraufhin der Bischof ganz entrüstet: „Lassen Sie mich sofort hinaus, ich bin schließlich der evangelische Bischof!"

Der Pfleger begann schallend zu lachen, er konnte sich kaum beruhigen. Dann aber rief er durch die Tür: „Also wissen S' - mit sowas können S' mich net beeindrucken. Bei uns da wohnt nämlich a der Kaiser von China, und drei Zimmer weiter der Napoleon, ja sogar den lieben Gott hamma auf unserer Station!" Es dauerte eine ganze Weile, bis es dem Bischof endlich gelang, den Pfleger davon zu überzeugen, daß er tatsächlich ein „hoher kirchlicher Würdenträger" sei.

Bischof May war ein weiser Mann und so verstand er sein Erlebnis als eine Art Gleichnis - sonst hätte er es ja bestimmt nicht weitererzählt. Und die Lehre, die er lächelnd daraus zog: „Im Narrenhaus sind eben hohe Titel gefährlich! Hätte ich dem Pfleger gesagt, ich sei der Hauselektriker, dann hätte er sich wahrscheinlich entschuldigt und mich sofort hinausgelassen. Man glaubt gar nicht, wie rasch aus den Ersten die Letzten werden können."

Kommenden Sonntag wird die Evangelische Kirche A. B. ihren neu gewählten Bischof, Mag. Herwig Sturm, in sein Amt einführen. Für sein schweres Amt im Narrenhaus von Kirche und Welt ist ihm die Lebensweisheit seines Vorvorgängers in reichem Maße zu wünschen.

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