Gottes Widersprüchlichkeit
Im fünften Buch Mose, dem sogenannten Deuteronomium, erklärt Mose dem Volk Israel, wie es sich im gelobten Land Kanaan verhalten soll: Es soll alle, die dort wohnen, ächten, vertreiben, vernichten (Dtn 7). Und: Es soll Gott nicht vergessen. Den Gott, der gesagt hat: Du sollst nicht töten, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht begehren ... (Dtn 5, 17ff). Ja was denn nun: töten oder nicht töten? Begehren oder nicht begehren?
Die Theologie hat im Lauf der Jahrhunderte verschiedene Methoden erfunden, mit der Widersprüchlichkeit des biblischen Gottes umzugehen, die einfach nicht aus der Heiligen Schrift verschwinden will. Die einen versuchten, einen kriegerischen Gott des Alten Testaments sorgfältig vom liebenden Gott Jesu zu trennen, ohne Erfolg: Das Tötungsverbot steht vor dem Befehl des Mose, Kanaan auszurotten. Andere, zum Beispiel die Reformatoren, verstauten alles, was menschlicher Logik nicht entspricht, im „unerforschlichen Ratschluss Gottes“. Und den sollen wir sündigen Würmer nicht entschlüsseln, sondern gläubig annehmen. Matriarchatsforscherinnen schrieben alles Kriegerische dem Patriarchat zu, das die in den Texten noch durchschimmernde friedliche Weltordnung der Muttergöttin unterdrückt habe. Oder man sprach von der Lernfähigkeit Gottes, von Evolution im Gottesbild: Gott widerspricht sich selbst, weil er immer mal wieder aus Erfahrung klug wird. Die neueste Forschung zur Entstehung des Monotheismus erklärt uns, der Eine Gott sei eben historisch aus vielen Göttinnen und Göttern entstanden, deren Wertedebatten im Text deutliche Spuren hinterlassen hätten …
Und dann kommen immer wieder neue Kinder auf die Welt, die mit unverbrauchten Augen die alten Texte lesen. Was sagen wir denen eigentlich? Wir Aufgeklärten? Wir Heutigen?
* Die Autorin ist Germanistin und evang. Theologin in der Schweiz
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