Manemann - © Privat

Wider die gängige Apokalypse-Blindheit

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Der Hannoveraner Theologe Jürgen Manemann über die Atom-Debatte in Deutschland, die Möglichkeiten einer Energiewende und die unerwartete Renaissance des Wiener Technikphilosophen Günther Anders (1902-92).

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Der Hannoveraner Theologe Jürgen Manemann über die Atom-Debatte in Deutschland, die Möglichkeiten einer Energiewende und die unerwartete Renaissance des Wiener Technikphilosophen Günther Anders (1902-92).

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Er ist Schüler von Johann Baptist Metz und Vertreter der "Neuen Politischen Theologie“: Jürgen Manemann, seit 2009 Direktor des renommierten katholischen "Forschungsinstituts für Philosophie Hannover“, im Gespräch über die Lehren aus Fukushima und die realistische Chance eines Atom-Ausstiegs.

DIE FURCHE: Die Regierung Merkel hat aufgrund der Katastrophe in Japan sieben AKW zumindest vorübergehend vom Netz genommen. Handelt es sich dabei um Beschwichtigungspolitik oder um Vorzeichen einer echten Wende?
Jürgen Manemann: Ich hätte mir schon im letzten Jahr vor der Entscheidung zur Laufzeitverlängerung ein Moratorium gewünscht. Das hätte eine breite gesellschaftliche Debatte über Atomenergie und auch über regenerative Energien möglich gemacht. Diese Chance wurde vertan. Das ist umso bedauerlicher, als der Atomkompromiss aus dem Jahr 2001 die Gesellschaft befriedet hat. Es war ein Kompromiss für Gegner und Befürworter der Atomenergie. Wenn es heute tatsächlich eine strenge Überprüfung geben sollte, es also nicht um Beschwichtigungspolitik geht, so verdient die Bundeskanzlerin dafür Lob und keine Kritik.

DIE FURCHE: Wie müsste eine echte Wende in der Energiepolitik aussehen?
Manemann: Die Kernenergie ist Ausdruck einer Lebensweise, die von der technischen Machbarkeit und vom Glauben an stetiges Wachstum, Wohlstand und Wohlbefinden bestimmt ist. Mittlerweile scheinen beide Annahmen widerlegt: Wachstum führt nicht automatisch zu Wohlbefinden - im Gegenteil: Der Wohlstand steigt und wir werden immer unglücklicher! Eine echte Wende würde daher bei der tiefen Frage ansetzen müssen: Wie wollen wir eigentlich zusammen leben? Was ist ein humanes und gutes Leben?

DIE FURCHE: Welche Lektion erteilt uns Fukushima?
Manemann: Fukushima stellt uns vor die Wahl: Nehmen wir die Katastrophe tatsächlich in der ganzen Dramatik wahr, so dass sie unsere Haltung auch hierzulande verändert? Oder bleiben wir weiterhin apokalypseblind, wollen wir nicht wahrhaben, was sich vor unseren Augen abspielt? Ich hoffe, dass wir endlich die verharmlosende Rede von Risiken im Blick auf unsere alten Atomkraftwerke aufgeben. Ein Risiko ist eine gedanklich vorweggenommene Katastrophe. Aber mit dieser aktuellen Katastrophe wird die Unterscheidung zwischen dem, was wir in Gedanken als ein Risiko vorstellen und der tatsächlichen Katastrophe geringer.

DIE FURCHE: Spielt für die Wahrnehmung der Katastrophe auch die mediale Vermittlung eine Rolle?
Manemann: Ja, denn zu jedem Begriff gehören Bilder. Zur Atomkatastrophe gehörten bislang die Bilder von Tschernobyl. Diese waren geprägt von Bildern einer technisch rückständigen Sowjetunion. Durch Japan wird der Begriff der nuklearen Katastrophe mit der Vorstellung einer hoch technisierten Industriegesellschaft verbunden. Das irritiert - aber es bietet auch die Chance, gewohnte Denkmuster zu durchbrechen und die Katastrophe bei uns zu denken.

DIE FURCHE: Sie spielen damit auf den Wiener Philosophen Günther Anders an, der bereits vor einem halben Jahrhundert von der Apokalypseblindheit gesprochen hat. Was ist damit gemeint?
Manemann: Apokalypse-Blindheit meint die Unfähigkeit, eine Katastrophe sich als Katastrophe vorstellen zu können. Diese basiert nicht zuletzt darauf, dass der Mensch weniger vorstellen als herstellen kann. Aber auch unsere Gefühle lassen uns bei der Katastrophe im Stich: Wie sollen wir Abertausend Tote betrauern? Der einzelne scheint zur Zahl innerhalb einer Statistik zu werden, die vorzustellen uns emotional überfordert.

DIE FURCHE: Günther Anders hat festgestellt, dass die Menschheit in eine neue Phase eintritt, wo sie Dinge technisch produziert, die sie selbst nicht mehr beherrschen kann. Ist es an der Zeit, diese Technikkritik in ihrer tiefen Melancholie zu entstauben?
Manemann: In der Tat: Wenn Anders feststellt, dass wir weniger vorstellen als herstellen können, dann gilt das auch heute. Wir können das, was wir herstellen, nicht wirklich in seiner Tiefe erfassen - weder kognitiv noch emotional. Aber auch das hat Anders erkannt: Wir kommen nicht mehr hinter den Zustand der verlorenen Unschuld zurück - denn wir sind unfähig, das einmal Gekonnte nicht mehr zu können. Wir scheinen nicht an einem Mangel an Können zu leiden, sondern an Nichtkönnen.

DIE FURCHE: Das "Forschungsinstitut für Philosophie Hannover“, das Sie leiten, hat im Vorjahr rund um die Laufzeitverlängerung eine Streitschrift unter dem Titel "Kirche - Klimawandel - Kernenergie“ herausgegeben. Wie finden diese drei Begriffe zueinander?
Manemann: Wer heute von der Kernenergie spricht, der darf vom Klimawandel nicht schweigen. Der Klimawandel bedroht das Leben der gegenwärtig und zukünftig Lebenden - eine Herausforderung, die eine Kirche, die den Gott des Lebens verkündet, in ihren Grundfesten erschüttern muss.

DIE FURCHE: Was sind die Argumente, die eine vehemente Ablehnung der Kernenergie rechtfertigen?
Manemann: Bei der Kernenergie handelt es sich um eine Technologie, die aufgrund der Risiken die Lebensbedingungen nicht nur gegenwärtiger, sondern vor allem zukünftiger Generationen gefährdet. Unsere Atomkraftwerke sind zwar nicht durch Erdbeben gefährdet, aber immer noch durch menschliches Versagen oder durch Kettenreaktionen. Auch ist keine unserer Anlagen vor terroristischen Angriffen geschützt. Außerdem besteht die Gefahr des terroristischen Zugriffs auf potenziell kernwaffenfähiges Material. Auch das Problem der Zwischen- und Endlagerung radioaktiver Abfälle ist ungeklärt - mit der Folge, dass wir weder für die gegenwärtige noch für die kommenden Generationen wirklich Verantwortung übernehmen können. Wir haben ein Flugzeug gestartet, ohne am Ankunftsort eine Landebahn zu bauen.

DIE FURCHE: Gibt es eine spezifisch christliche Argumentationslinie in diesen Fragen?
Manemann: Wir haben in unserer Stellungnahme bewusst nicht den Begriff der Schöpfung gewählt, sondern mit dem Prinzip des Gemeinwohls argumentiert. Wenn nun der Klimawandel das Zusammenleben gefährdet, dann muss eine Diskussion über eine Ethik der Nachhaltigkeit von der Frage ausgehen, was denn wohl im Interesse aller Menschen liegt. Die Rede vom Gemeinwohl bezieht sich auf solche Güter, die für alle gegeben sein müssen. Dazu gehören Güter, derer ein Mensch bedarf, um sein physisches Überleben zu sichern, aber auch Güter, die es ihm ermöglichen, sich kulturell zu betätigen. Daraus ergibt sich, dass lebenszuträgliche und zukunftsfähige Umweltbedingungen ein Gemeinwohlgut sind.

DIE FURCHE: Anders gesagt: Sie vertrauen der Überzeugungskraft des Schöpfungsgedankens nicht mehr?
Manemann: Wir hatten den Eindruck, dass die Rede von der Schöpfung inflationär geworden ist und zudem eine Stoßrichtung nach Innen hat. Wir wollten mit der Stellungnahme aber auch Menschen außerhalb der Kirche ansprechen - und das ist uns in der Tat gelungen.

DIE FURCHE: Ist eine atomenergiefreie Zukunft überhaupt ein seriöses Szenario? - Und wenn ja - in welchem Horizont?
Manemann: Der Atomausstieg ist eine realistische Perspektive. Der Sachverständigenrat der Bundesregierung hat ein Gutachten erstellt, das davon ausgeht, dass wir im Jahr 2050 zu 100 Prozent unseren Energiebedarf durch regenerative Energietechniken decken können. Eine Laufzeitverlängerung ist diesem Gutachten zufolge falsch. Die Brückentechnologie ist nicht die Kernenergie, sondern Energieeffizienz.

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