jürgen manemann plädiert für eine "tiefe Diesseitigkeit" der Christen, wie es schon Bonhoeffer formuliert hat.
Die Furche: Herr Professor Manemann, Religion ist wieder in aller Munde. Sei es in der Frage europäischer Grundwerte oder in der Frage nach der Rolle des Islam in Europa - überall drängt das Thema Religion auf die Agenda öffentlicher Debatten. Müssen europäische Gesellschaften sich heute erneut der "Gretchenfrage" stellen, wie sie es selbst mit der Religion halten?
Jürgen Manemann: Weltweit gesehen muss man sicherlich sagen, dass die Religionen auf dem Vormarsch sind. Für die westeuropäischen Gesellschaften scheint mir das jedoch keinesfalls ausgemacht. Nehmen sie das Beispiel der neuen deutschen Bundesländer. Die Situation dort beschreibt mein Erfurter Kollege Eberhard Tiefensee als weit gehend "a-religiös". Von einer Wiederkehr der Religion ist da nicht viel zu spüren. Ich würde daher eher von der Wiederkehr eines religiösen Bedürfnisses sprechen. Dieses Bedürfnis sollte man jedoch keineswegs mit Religion gleichsetzen, geschweige denn mit dem Christentum verwechseln.
Die Furche: Woher kommt dieses Bedürfnis? Sind wir "zu säkular" geworden?
Manemann: In der Tat ist die Frage der Wiederkehr von Religion nicht von der Frage der Säkularisierung zu trennen. Säkularisierung, so wird derzeit in den Debatten häufig unterstellt, sei ja ein Mythos gewesen, allenfalls eine der Vergangenheit angehörende Zeiterscheinung. Auf Ihre Frage nach unserer Säkularität würde ich antworten: Wir sind weder säkular noch gläubig. Daher spricht aus den derzeitigen Debatten wie aus dem wiederkehrenden religiösen Bedürfnis meines Erachtens vor allem der unterschwellige Ruf nach einer Entsäkularisierung.
Die Furche: Was ist darunter zu verstehen?
Manemann: Entsäkularisierungsprozesse zeigen sich dort, wo man versucht, die Gesellschaft wieder auf eine sakrale Grundlage zu stellen. Man geht davon aus, dass die Moderne gescheitert ist, weil sie sich zu sehr von Gott entfernt hat, also muss man die moderne Gesellschaft wieder auf eine sakrale Grundlage stellen. In den westeuropäischen Gesellschaften ist dieser Trend nicht so stark. Bei uns zeigen die Formen wieder erstarkender Religiosität eher eine Tendenz zur Entpolitisierung. Das bedeutet, dass es so etwas gibt wie eine devote Hingabe an Mythen der Vorzeit, dass man Religionsformen ästhetisiert, beispielsweise in der Liturgie, oder primitiviert. Eine solche Form der Religiosität ist jedoch anachronistisch, sie hat eigentlich keinen Anknüpfungspunkt in der Gesellschaft mehr und erschöpft sich darin, Trostmittel zu sein und den Hunger nach Metaphysik zu befriedigen. Sie vermag zwar in gewisser Weise die Menschen "fromm" zu machen, aber diese Frömmigkeit hat keine Zukunftsfähigkeit mehr.
Die Furche: Missachtet man damit nicht die vielleicht aufrichtige Suche des modernen Menschen nach einem "Heiligen", nach einem "Anderen"?
Manemann: Nein, man missachtet damit nicht die Suche der Menschen nach einem Anderen - ganz im Gegenteil: ich kritisiere ja nicht das Bedürfnis nach Sinn, nach Religion und Gott an sich, sondern die Form seiner Befriedigung, da sich diese Form letztlich am Anderen vergreift, weder der Sehnsucht des Menschen gerecht wird, noch auf Gott zielt. Ich würde dabei soweit gehen zu behaupten, dass gerade jene Gruppen, die - wie etwa die Evangelikalen - von diesem religiösen Bedürfnis leben, anstelle von wirklichem Trost und Sinn nur Vertröstung bieten. Überspitzt könnte man vielleicht sogar sagen, dass eine Religion, die sich dieses Trostes enthält, mehr tröstet. Man muss freilich einräumen, dass gerade die Evangelikalen oft stark sozial engagiert sind - die Frage ist aber, ob diese Form von Caritas Ausdruck eines Daseins-für-andere ist oder bloßes Mittel zur Selbstbestätigung, ob ich mich also vom Leid des anderen derart betreffen lasse, dass meine vermeintlichen Gewissheiten, mein geglaubter Glaube erschüttert wird.
Die Furche: Wie muss man unter diesen Vorzeichen den Begriff der Säkularisierung verstehen?
Manemann: Säkularisierung ist ursprünglich - und das wird vielfach in den gegenwärtigen Debatten vergessen - ein kirchenrechtlicher Begriff, der nicht die Neutralisierung von Religion bezeichnet, sondern den Vorgang, in dem ein Ordenspriester Weltpriester wird. Das heißt also, Säkularisierung bedeutet ursprünglich "weltlich werden". Und genau so möchte ich daher den Begriff Säkularisierung auch verstanden wissen: als Prozess der Weltwerdung der Welt und Mündigwerden des Menschen. Im Laufe der Geschichte wurde jedoch aus der Säkularisierung, die die Welt und den Menschen freisetzt, eine Neutralisierung. Wo diese Neutralisierung zur Strategie wird, kippt der Säkularisierungsvorgang in "Säkularismus" um, d.h. er wendet sich gegen alles, was wir mit den Begriffen "das Andere", das "Heilige" oder eben die Religion, die Natur etc. bezeichnen.
Die Furche: Das heißt, Sie würden die Wiederkehr eines religiösen Bedürfnisses und die damit einhergehenden Tendenzen der "Entsäkularisierung" als Krisenphänomene werten?
Manemann: Ich denke schon. Das Umkippen von Säkularisierung in Neutralisierung ist nicht nur Theorie - es lassen sich ganz konkrete Folgen wie die Zunahme von diffusen Ängsten, aber auch unterschiedliche Formen von Aggression und Gewalt ausmachen. Ich fasse diese Phänomene zusammen unter den Begriffen aktiver und passiver Nihilismus. Der aktive Nihilismus meint letztlich die Unfähigkeit, ein Ja zum Sein des Anderen zu sprechen - sogar um den Preis der eigenen Vernichtung. Damit meine ich ganz konkret: Selbstmordattentäter und Amokläufer, die nicht in der Lage sind, das Sein des Anderen anzuerkennen und die so einen Hass entwickeln, dass sie sogar bereit sind, diesen Hass zu befriedigen, auch wenn diese Befriedigung den eigenen Tod bedeutet. Daneben gibt es Phänomene des passiven Nihilismus, unter dem ich eine "Subjektmüdigkeit" (T. Polednitschek) verstehe, die in Resignation und letztlich in Depression und Suizid mündet.
Die Furche: Das bedeutet also ein vehementes Plädoyer eines Theologen für die Säkularisierung?
Manemann: Wenn Sie so wollen, bedeutet das eine Verteidigung der Säkularisierung in ihrer ursprünglichen Bedeutung und Intention gegen die derzeitigen Tendenzen der Entsäkularisierung und Entpolitisierung. Es zeichnet ja den biblischen Glauben gerade aus, dass er zwischen Gott und Welt trennt - damit die Welt Welt und der Mensch Mensch werde. Die Menschwerdung Gottes zielt ja nicht auf die Vergöttlichung des Menschen, sondern sie meint die Anerkennung der Welt und beinhaltet den Imperativ "Werde Mensch!". Der biblische Glaube zielt auf - um ein Wort Bonhoeffers zu bemühen - "tiefe Diesseitigkeit". Erst in der Fülle der Aufgaben - und dazu gehören die Fragen, die Erfolge und Misserfolge, so Bonhoeffer - lernt man glauben. In diesem Sinne bin ich Anhänger eines "religionslosen Christentums". Säkularität - und auch das wäre von Bonhoeffer zu lernen - heißt, weltlich von Gott zu denken. Mit anderen Worten: die Transzendenz, um die es geht, ist ein Leben im Dasein für andere.
Die Furche: Was bedeutet das für den heutigen Christen?
Manemann: Er müsste sozusagen die Säkularität zu einer Art Basiskategorie seines Denkens machen. Wenn man Säkularität mit Bonhoeffer als "tiefe Diesseitigkeit" versteht, müsste der Christ sich also für die Verweltlichung, für die Profanierung (nicht zu verwechseln mit Profanisierung!) ein-setzen. Und diese Radikalität wird von der Liebe, die Jesus gelebt hat, verlangt. Jesus liebte die Welt sehr - und er war alles andere als ein Weltflüchtiger. Glauben lernt man nicht, indem man sich von der Welt wegbewegt, sondern indem man sich in die Welt hineinbegibt.
Das Gespräch führte Henning Klingen.
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