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Die Frage, wieviel Religion die Gesellschaft verträgt, treibt auch Europa immer mehr um. Im Benediktinerstift Seitenstetten stellten sich franz gruber, Dogmatiker an der Katholisch-Theologischen Privatuniversität Linz, und navid kermani, deutsch-iranischer Schriftsteller und Islamwissenschafter, diesem Thema.

Franz Gruber: Wir bewegen uns in eine nachchristliche Moderne, in der sowohl die agnostischen als auch die religiös spirituellen Strömungen zunehmen. Ich sehe eine dialektische Entwicklung: Sowohl der Agnostizismus als auch eine Art Wiederkunft der religiösen Bewegungen findet parallel statt. Aufgrund der historischen Sonderrolle Europas als Impulsgeber der Aufklärung, des modernen Rechtsstaates und der Entstehung der Wissenschaften, die sich nur gegen die christliche Religion - allerdings paradoxerweise mit ihren fundamentalsten Grundwerten der Freiheit des Individuums, auch wieder Gewaltlosigkeit des Evangeliums oder Jesu - selbständig machen konnten, hat eine sehr starke religionskritische Haltung die geistige Eliten Europas geprägt.

Viele glaubten, dass mit dem Fortschritt der Wissenschaft, mit dem Wohlstand, der durch Politik und Wirtschaft entsteht, eigentlich Religion von selbst ausläuft. Interessant ist heute zu sehen - wieder einmal der interessante Sonderfall Europa - nicht die Religion ist ausgestorben, sondern die Religionskritik.

Globale Banalität

Gruber: Es ist auch die Gefahr gegeben, dass die humanistischen Grundwerte der europäischen Gesellschaft selbst - die Menschenrechte, der Sinn für Solidarität, der Einsatz für die Benachteiligten, für die Fremden usw. erodieren können, dass eine Gesellschaft entsteht, die eigentlich nicht mehr erkennt, was banal und was anspruchsvoll ist, wofür es sich lohnt zu leben, und was eigentlich eine Oberflächlichkeit des Lebens darstellt, die weit hinter den Anspruch zurückfällt, den die ehemals religiöse Gesellschaft in Europa und Menschen gehabt haben. Wenn ich mir denke, wie reichhaltig und sensibel auch die immer geschmähte religiöse Volkskultur gegenüber der modernen, oft in die absolute Banalität abgleitenden globalisierten Kultur ist, dann kann man sehen, was für Verluste da möglich sind. Ich habe den Eindruck, dass die europäische Gesellschaft und die Politik diese Fragen verdrängen.

Europa hat noch nicht begriffen, dass Religion wieder zu einem öffentlichen Thema wird. Europa lebt nach wie vor vom Klischee, dass Religion und Gesellschaft strikt getrennt gehören und dass die Religionsfreiheit für viele Menschen von Religion frei sein bedeutet.

Angepasste Religion

Navid Kermani: Europa wird ja nicht weniger religiös, aber es wird weniger konfessionell. Das heißt, die traditionellen Kirchen verlieren an Bedeutung. Ich beobachte von außen beide großen Konfessionen: Sie haben sich sehr weit angepasst im Wettbewerb der verschiedenen Anbieter von Religion. Genau das, was der neue Papst ja so vehement bekämpft, das Relativieren - ist in weiten Teilen von den Kirchen übernommen worden, indem sie immer mehr ihre eigenen Tradition angepasst haben an das, was von ihnen erwartet worden ist.

Nehmen Sie ein Wort wie "Gottesfurcht", das ja in keinem monotheistischen Gottesweltbild fehlen könnte: Wer wagt denn heute noch davon zu sprechen, dass Gott nicht nur gütig ist, sondern dass da auch eine Erhabenheit und ein Schrecken da ist?

Säkularität befreit Religion

Kermani: Wie gehen wir mit diesen Elementen der Heiligen Schriften um: dem Zorn, der Rachsucht, dem Schrecken Gottes? Die Kirchen - und auch die muslimische Orthodoxie - haben in den letzten Jahrzehnten sehr stark versucht, all das zu relativieren, um mithalten zu können in einem Diskurs, der von nichtreligiösen Eliten bestimmt worden ist, all diesen Schrecken wegzuretuschieren und zu sagen, wir sind gar nicht so, wie es da steht.

In dem Augenblick, wo Säkularität wirklich erreicht worden ist, wenn also Religionen nicht mehr gesellschaftsbildend sind, können sie viel stärker wieder zu dem zurückgehen, was sie eigentlich ausmacht, denn ihr Wort ist ja gesellschaftlich nicht mehr autoritativ, das heißt, sie müssen es nicht mehr so zurechtbiegen, dass es für eine ganze Gesellschaft gelten kann. Sie können auf ihrer jeweiligen absoluten Wahrheit beharren. Aber das können sie doch nur, wenn mein Wort die absolute Wahrheit eines anderen in keinster Weise beeinträchtigt. Religion kommt ohne diesen Wahrheitsbegriff nicht aus.

Säkulare Staaten müssen zulassen, dass der eine Absolutheitsanspruch andere Wahrheiten nicht ausschließt. Solange es diese Säkularität nicht gibt, müssen Religionen aus ethischen Gründen immer von ihren eigenen Wahrheiten absehen. Sie können sie nicht so absolut behaupten wie sie es dem eigenen Anspruch nach tun müssten. Und hier sehe ich die Chance von Säkularität, von Laizismus.

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