Das Schweigen der Christen

Werbung
Werbung
Werbung

Die wahren religiösen Hintergründe des derzeitigen Weltkonflikts liegen im Nebel - und werden jedenfalls nicht diskutiert.

Hundert Seiten Berichterstattung im "profil", stundenlange Fernsehberichte: Die Thematisierung der Macht der Religion im Konflikt der USA mit der Welt des Islam und seinen fundamentalistischen Auswüchsen bleibt in vielen Medien an der Oberfläche. Zwischen den Zeilen vieler Medien lesen wir: Es gibt zwar einzelne kluge und sogar nette Muslime, aber sonst ist der Islam eine "archaische Religion" (Reinhard Tramontana im "profil"), die an allem schuld ist und die Menschen instrumentalisiert. Religion erscheint wie ein lästiges, überflüssiges, jetzt auch noch gefährliches Relikt aus alten Tagen, obsolet für aufgeklärte Westliche.

Eine solche Sicht immunisiert uns Säkularisierte gegenüber den religiösen Anfragen in den Ereignissen dieser Tage. Für "zivilisierte" Menschen ist es offenbar unvorstellbar, aus religiösen Gründen politisch zu agieren. Marxistischer als Marx sind wir davon überzeugt, dass es allein die Armut und Not in diesen Ländern sind, die anfällig für religiöse Fanatismen machen. Wenn auch die Muslime Handys haben, Laptops benutzen und auf Urlaub fahren können, dann würde sich das Problem schon lösen.

Vorweg: Der Terrorakt ist selbstverständlich durch nichts zu legitimieren und auch die Täter-Opfer-Relation ist durch nichts in Frage zu stellen. Dennoch: Die vier Flugzeuge sind am 11. September 2001 nicht aus heiterem Himmel gestürzt. Gewalt, Krieg, Armut und Not der islamischen Welt bilden dazu ebenso die Hintergrundfolie wie der angeblich zivilisiertere Lebensstil der westlichen Welt. Letzterer steht aber kaum zur Diskussion. Das gilt auch für die religiösen Hintergründe des Geschehens, die sich auf beiden Seiten finden.

Als Christen, die sich dem friedliebenden Islam verbunden wissen, melden wir uns hier zu Wort. Denn den säkularisierten Menschen des Westens wurde am 11. September auch die Frage gestellt: Können Gott und Glaube im öffentlichen und politischen Leben zivilisiert eine Rolle spielen? Wir befinden uns auch in einem Konflikt der Weltanschauungen. Dieser Konflikt spielt sich aber nicht zwischen dem Christentum und dem Islam ab. Vielmehr geht es bei ihm darum, wer in dieser Frage die "richtige" Lösung "hat". Und das ist ein gefährlicher Konflikt, der zudem den Anliegen aller Religionen im Grund zutiefst entgegen steht.

Mit den allerchristlichen USA und dem islamischen Fundamentalismus stehen einander und uns Europäern zwei Weltsichten gegenüber, die beide mit Gott Politik machen. Beide sind unerschütterlich in ihrer Frömmigkeit und nicht durch das Fegefeuer der Religionskritik gegangen. Und beide sind davon überzeugt, das richtige Konzept gefunden zu haben: Die USA mit ihrem Bekenntnis zur Religionsfreiheit und ihren zahllosen, pluralistischen religiösen Denominationen; der islamische Fundamentalismus mit seiner unbedingten Treue zu Allah, der Unterordnung persönlicher Interessen unter den Willen Gottes und dem Wunsch, die Religion fest in Öffentlichkeit und Staat zu verankern.

Das amerikanische Konzept klingt für unsere Ohren freundlicher, weil freier, aber ist es wirklich selbstverständlich das Bessere? Ist Religionsfreiheit nicht oft auch Religionsgleichgültigkeit? Ist es wirklich völlig absurd, religiösen Anliegen treu sein, Religion und Politik verbinden zu wollen? Der Islam - und zwar jener, der wie das Christentum eine Religion des Friedens sein will - erinnert uns daran, dass Religiosität und Öffentlichkeit zusammengehören.

Vielleicht ist die westliche Lösung wirklich das Bestmögliche, um Menschen zusammenzubringen. Aber das müssten wir zunächst einmal (mit den Muslimen) diskutieren! Das Problem beginnt dort, wo beide Weltsichten beginnen, die eigene Position unbedingt, unerschütterlich und gnadenlos für die einzig Mögliche und moralisch Richtige zu halten, sie mit Gewalt gegen Menschen durchsetzen und damit über das Leben von Menschen stellen.

Religiös Gleichgültige

Während der fundamentalistische Islam wie einst das Christentum Gewalt und Terror mit der Religion und mit Gott legitimieren, sehen die Amerikaner kein Problem darin, dass sich in den Türmen des WTC die Büros der Reichen neben den Gottesdiensträumen befinden, während das Sicherheitspersonal am Flughafen seinen Dienst unmotiviert versieht, weil es schlecht bezahlt ist. Auch letzteres zeugt von Gewalt, nicht unmittelbar gegen Leib und Leben, aber auch nicht "zivilisiert" oder gar moralisch "gut". Der Anschlag ist auch eine Anfrage an jene unglückselige Verbindung zwischen Kapitalismus und Religion, in der wir leben.

Der islamische Fundamentalismus fragt an, auch uns Europäer: Ist das Abdrängen der Religiosität in die Sphäre des Privaten wirklich der Weisheit letzter Schluss? Wie halten wir im Westen es mit unserem Verhältnis zum Wahrheitsanspruch der Religionen? Wie können Religion und Politik verbunden werden, ohne dass eine die andere instrumentalisiert? Dass der islamische Fundamentalismus so bedrohlich ist, zeigt, dass auch wir diese Frage nicht wirklich gelöst haben.

Hilflos, sprachlos und ohnmächtig stehen wir den religiösen Fragen gegenüber. Neben den Geheimdiensten und Waffen bräuchten wir jetzt dringend religiöse Argumente. Der Fundamentalismus ist kein Relikt aus einer archaischen Zeit, er ist die hochmoderne Reaktion auf die ungelösten religiösen Fragen der Moderne. Nicht nur der ethischen, auch und vor allem einer umfassenden religiösen Bildung wird in Zukunft eine gewichtige Rolle zukommen müssen.

Im Westen wird die Tatsache bagatellisiert, dass Religiosität politisch wirkmächtig ist. Religiosität beeinflusst unser Handeln, auch hier in Europa, auch hier in Österreich - ob uns das lieb ist oder nicht. In Österreich lösen wir das, indem Kirchenvertreter hin und wieder etwas Politisches sagen dürfen. Auch Caritaspräsidenten werden gern gehört, aber die religiösen Beweggründe dieser Organisation sind dabei nicht wirklich im Blickpunkt.

Und von jenen 75 Prozent der Österreicherinnen und Österreicher, die sich selbst als religiös verstehen, lebt mancher oft notgedrungen ein Doppelleben, weil für seine religiösen Überzeugungen im Konkurrenzbetrieb des Wirtschafts- und Arbeitslebens, im politischen Geschehen kein Platz ist. Im Getriebe der Medien gibt es wohl Inseln der vernünftigen religiösen Diskussion, aber diese werden viel zu wenig wahrgenommen und unterstützt.

Wohlgemerkt, es geht nicht darum, die Politik nun wieder religiös zu überhöhen oder den Gottseidank zu Ende gehenden politischen Katholizismus zu reaktivieren. Dennoch: Für einen Christen ist es doch auch sehr unzufriedenstellend, wie ohnmächtig Religiosität im öffentlichen Leben mitunter ist. Der 11. September war und ist eine Anfrage an unseren Lebensstil, auch in religiösen Belangen.

Es ist höchste Zeit, die weltanschaulichen Hintergründe dieses Konflikts zu thematisieren, diese aber nicht automatisch als Ideologie abzuqualifizieren. Denn das ist nicht nur naiv, das ist gefährlich. Die jüdisch-christliche Tradition lehrt, dass Worte und Gedanken wie Taten wirken. Solange die religiösen Fragen nicht diskutiert werden, werden weder Wohlstand, noch Demokratie oder Aufklärung den islamischen Fundamentalismus verändern. (Militärische Aktionen sowieso nicht.) Was aus dem Christentum durch diese Entwicklungen vielerorts geworden ist, wird auch für friedliebende und humanistische Muslime nicht wirklich attraktiv sein.

Eine religiöse Diskussion ist an der Zeit, nicht nur als exotisches Sonderprogramm für Insider. Dazu gehört auch, den Kirchen und Religionsgemeinschaften in der medialen Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen, damit alle sehen und hören können, was und wieviel an interreligiösem Dialog bereits geschieht. Ebenso wichtig ist es, dass sich der säkularisierte Westen mit den Religionen offensiv und diskursiv auseinandersetzt und sich beide durch die guten und schlechten Erfahrungen des Anderen in Frage stellen lassen.

Paul M. Zulehner ist Pastoraltheologe und Dekan der Kath.-theol. Fakultät der Universität Wien.

Regina Polak ist Assistentin am Institut für Pastoraltheologie der Universität Wien.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung