Als wenn es keinen Gott gäbe …

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Die Rede vom "aggressiven Säkularismus“ wird zum Kampfbegriff und droht, eine redliche Diskussion über Säkularisierung zu überlagern.

Wie oft mag sich der deutsche Rechtsphilosoph und ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst Wolfgang Böckenförde schon gewünscht haben, diesen Satz niemals geschrieben zu haben! "Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Durch diesen einen Satz, nachzulesen in seinem Werk "Staat, Gesellschaft, Freiheit“ von 1976, avancierte Böckenförde - ungewollt und ungerechtfertigt - zum Liebling des religiösen Feuilletons und zugleich zum Gewährsmann jener, die aller Marginalisierung zum Trotz einen religiösen dritten Frühling wittern. Ein religiös ausgemergelter Rechtsstaat, so das Argument, trage einen gefährlichen dialektischen Kern in sich, wo er jene Institutionen - gemeint natürlich vor allem die christlichen Kirchen - ausbluten lässt, die Empathie, Solidarität und Nächstenliebe, kurz: die Grundlagen unseres Zusammenlebens regenerieren.

Im vergangenen Jahr platzte Böckenförde offenbar der Kragen. Gemeinsinn und Ethos seien zwar tatsächlich jene Momente, die es vor der Säkularisierung zu schützen gelte, die Frage nach den Quellen führe aber nicht unumwunden zu den Futtertrögen der etablierten Religionsgemeinschaften. "Gelebte Kultur“ sei ein eben solcher Ethos-Stifter, auch in "Aufklärung und Humanismus“ ließen sich Quellen des Gemeinsinns ausmachen, "aber nicht automatisch bei jeder Religion“.

Religion steht auf der Tagesordnung

Das Beispiel zeigt zweierlei: zum einen, dass die Diskussion um die Rolle von Religion in der modernen Gesellschaft erneut auf der Tagesordnung steht; zum anderen, dass diese Diskussion sich mittlerweile selbst gewissermaßen säkularisiert hat: Sie ist aus den Hörsälen und Diskurscafés der Universitäten ausgewandert in die politischen und zivilgesellschaftlichen Vorfeldorganisationen, wo sie sich zu einem kämpferisch anti-modernen Programm gemausert hat. Auffälligstes Zeichen dieser Bewegung ist eine kleine, aber entscheidende begriffliche Verschiebung: So ist derzeit in der politischen Öffentlichkeit nicht mehr von Säkularisierung die Rede, sondern von "Säkularismus“. Mehr noch, sprechen Politiker und Kirchenvertreter doch gar von einem "aggressiven Säkularismus“, der gerade in den westlichen Ländern, auch in Europa, um sich greife.

Vom Reiz eines Kampfwortes

Dabei scheint sie nicht zu irritieren, dass das Adjektiv "aggressiv“ personale Entscheidungen, nicht jedoch a-personale strukturelle Weichenstellungen beschreibt, in denen jedoch Säkularisierungsprozesse ablaufen. Ungeklärt bleibt auch der Unterschied zum "Neuen Atheismus“, der tatsächlich - da durch einzelne Leitfiguren wie Richard Dawkins vermittelt - Formen der Aggressivität annehmen kann. Aber kennen Sie "aggressive Säkularisierer“? Die Unbestimmtheit zwischen hohler Phrase und Unheil ahnendem Raunen machen letztlich den Reiz aus. Doch wo die Säkularisierung zum "Ismus“ wird, lauert die ideologische Entstellung.

Gewiss, Säkularisierung hat ein dialektisches Potenzial. Sie kann denaturieren, etwa indem sie stumm bleibt gegenüber Gewalt, indem sie Egalität mit Gleichgültigkeit verwechselt, indem sie den Sensus wenn schon nicht für das Heilige, so doch zumindest für Grenzüberschreitungen verliert. Wer jedoch vom aggressiven Säkularismus spricht, ist nicht an Differenzierungen interessiert - es geht um einen Gegenangriff. Geradezu entfesselt scheinen entsprechend jene katholischen Kräfte, die die Welt vor dem Abgrund sehen, moralisch ausgelaugt, vom Pluralismus zerrüttet, gleichgültig gegen das Heilige, gegen Werte und Traditionen. Angefeuert durch die Medien, die ihren Schlachtruf verstärken, ziehen sie ins entscheidende Gefecht - die "Re-Evangelisierung“.

Der jüngste Coup der katholischen Wut-Bürger ist zugleich der bedenklichste: So nehmen sie - angestachelt durch die Berichte über die zweifellos tragischen Attentate auf koptische Christen in Ägypten, über Vertreibungen im Irak oder ihre Marginalisierung in arabischen Ländern - immer häufiger das Wort von der "Christenverfolgung“ in den Mund - und öffnen damit zugleich die Büchse der Pandora. Denn wer nach sozialen Hintergründen der Gewaltexzesse fragt oder Differenzierung verlangt, wer die Zahlenspiele zwischen 200 und 300 Millionen verfolgten Christen anzweifelt, steht rasch im Geruch, den Opfern notwendige Solidarität vorzuenthalten.

So zeigt sich, dass die Schlachtrufe nicht nur Kampfparolen in Richtung einer subtilen staatlichen Diskriminierung religiöser Menschen sind, sie richten sich vielmehr auch als Kampfansage an die eigenen Brüder im Glauben: Denn sie spalten, statt zu versöhnen, indem sie die Bedenkenträger, die Zweifler, die verhassten "linken Theologen“ und die wenigen religiösen Verteidiger der Säkularisierung verächtlich einer unangemessenen "political correctness“ zeihen oder aber - noch beliebter, weil päpstlich gedeckt - sie des theologischen Relativismus bezichtigen.

Der bittere Samen geht auch in Europa auf

Der bittere Samen geht indes auch in Europa auf, wo zuletzt das "Observatory on Intolerance and Discrimination against Christians“ mit seinem "Shadow Report“ einen Bericht vorlegte, der auch in Europa tätliche Attacken gegen Geistliche, religiöse Veranstaltungen, Kirchen oder Friedhöfe ahndet, aber auch die Entfernung religiöser Symbole aus dem öffentlichen Raum als Zeichen wachsender Intoleranz gegen Christen sieht. Und prompt findet sich auch dort das Signalwort vom "radikalen Säkularismus“, der neben einer "übertriebenen Political Correctness“ der Christen Grund für ihre Diskriminierung sei.

Die Bastion, die es zu stürmen gilt, ist schnell ausgemacht: So appelliert der Bericht an die EU-Grundrechteagentur, die Themen Religionsfreiheit, Redefreiheit und Gewissensfreiheit "zu Prioritäten ihrer Arbeit“ zu machen und eine Sammelstelle für Akte der Christenverfolgung einzurichten. Selbst die große europäische Bühne ist vor den "Ismen“ also nicht mehr gefeit. So mahnte unlängst der ehemalige britische Premier Tony Blair zur Zusammenarbeit der religiösen Führer, um der Gefahr des religiösen Extremismus und - richtig erraten - einem aggressiven Säkularismus zu begegnen.

Und der Vatikan? Der duldet dieses Spektakel nicht nur, er befeuert es noch als Stichwortgeber. So führt selbst Papst Benedikt XVI. - etwa bei seinem Großbritannien-Besuch - die Rede vom "aggressiven Säkularismus“ im Mund. Und in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag am 1. Jänner unterstrich er entsprechend, dass die großen Feinde der Religionsfreiheit der religiöse Fundamentalismus und der Säkularismus westlicher Provenienz seien. Ins selbe Horn blasen auch engste Mitarbeiter wie Erzbischof Rino Fisichella, Präsident des neu geschaffenen Rates für die Neuevangelisierung, der vor einer wachsenden "Christianophobie“ in Europa warnt.

"Postsäkulare“ Gesellschaft?

Gewiss, die Schubumkehrer haben einen großen Vorteil: Sie können sich auf die moderne religionssoziologische Einsicht berufen, dass die klassische Säkularisierungsthese nicht mehr funktioniert. Galt es lange Zeit als ausgemacht, dass Religion als Amalgam von Tradition, Institution und Mythos die gesellschaftliche Modernisierung hemme und also ein Auslaufmodell sei, so hat sich in den vergangenen zehn Jahren - befeuert vor allem durch die Großen der Philosophie, Jürgen Habermas und Charles Taylor - die Diskussion verlagert. So schleuste Habermas im Jahr 2001 den schillernden Begriff der "postsäkularen Gesellschaft“ in die Debatte ein, Taylor forderte noch im Vorjahr, man müsse Säkularisierung "neu denken“ insofern Menschen heute durchaus in der Lage seien, säkular und religiös zugleich zu sein.

Sollte tatsächlich die Rede von der "Wiederkehr der Religion“ philosophisch geadelt werden? Es lohnt der Blick auf das Kleingedruckte: So entgegnete Habermas bereits mehrfach, dass "postsäkular“ gerade keinen Abgesang auf die säkulare Gesellschaft bedeute, sondern vielmehr die Erkenntnis der Gleichzeitigkeit von religiösen und säkularen Elementen durch die Modernisierungsprozesse hindurch. Der Kniefall vor dem Numinosen bleibt aus, denn selbst in einer postsäkularen Gesellschaft bleibe das "nachmetaphysische Denken säkular“, das heißt, es kommt selbst durch starke religiöse Ambitionen der Lebenswelt zu keiner Umkehr etwa in den staatlichen Entscheidungsprozessen.

Die Säkularisierung ernst nehmen

Welche Haltung entspricht also dem säkular-religiösen Menschen? Einen Tag vor dem Tod Johannes Pauls II., am 1. April 2005, hielt Kardinal Josef Ratzinger einen Vortrag über die kulturelle Krise Europas. Darin wendet er sich am Ende mit einem "Vorschlag an die Säkularisten“. Durch Maßlosigkeit und eine in ihrer ganzen Dialektik nicht durchtauchten Aufklärung sei der Mensch, der sich von Gott losgesagt hat, an die Grenzen des Erträglichen gegangen. Daher seine Aufforderung an die säkularen Zeitgenossen: Lebt doch "etsi deus daretur“ - als wenn es Gott gäbe! Ein Taschenspielertrick, der - mit Verlaub gesagt - säkulare Quellen von Moral und Kultur, auf die Böckenförde hinweist, nicht ernst nimmt und wohl kaum Gehör findet.

Warum nicht den gegenteiligen Weg einschlagen und leben "etsi deus non daretur“ - als wenn es keinen Gott gäbe? Für Christen bedeutet dies, die Säkularisierung endlich als demokratische Produktivkraft ernst zu nehmen, nicht aus ihren Pflugscharen wieder Schwerter zu schmieden und mit antireformatorischem Eifer gegen aggressive Säkularisten zu Felde zu ziehen. Für säkulare Zeitgenossen hingegen ist ein Leben "als wenn es keinen Gott gäbe“ eine Alltagserfahrung - aber vielleicht zugleich auch der augenzwinkernde Ruf, der geheimnisvollen Tiefe des Konjunktivs zu folgen - jenem Rockzipfel des Göttlichen, der die Erde streift, um sogleich wieder - noch bevor er begriffen wird - um die Ecke zu verschwinden.

Kurz gesagt: Zu leben, "etsi deus non daretur“, entspräche der modernen Geisteshaltung eines nachmetaphysischen und zugleich postsäkularen Zeitgenossen, der zumindest im Gestus des Vermissens noch um die Leerstelle weiß, die jene Kraft, die wir als Gott zu bezeichnen pflegen, ausgefüllt hat.

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