Die blutleere Gesellschaft

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Der Säkularismus sei am Ende, meint Elsayed Elshahed, der aber kein "Anti-Säkularist" sein will.

Die Religionen sitzen mit im Boot. Auf die eine oder andere Weise sind auch sie Teil der Säkularisierung, der Verweltlichung der Welt, verändern sich mit ihr oder in Reaktion auf sie. Sollten sich die Religionen daher entschließen, der säkularen Gesellschaft den Kampf anzusagen, wäre das vermutlich, um ein gewagtes Bild zu bemühen, eher eine Meuterei auf dem Achterdeck, als eine Seeschlacht. Und vieles spricht dafür, dass es unter den meuternden Matrosen zu erheblichen Auseinandersetzungen käme, würden sie das Kommando übernehmen und das Boot aus säkularen Untiefen ins Fahrwasser religiös bestimmter Politik leiten. Denn dann gälte es ja erst noch zu klären, welche Religion denn nun tatsächlich fortan den Ton angeben solle.

Umso mehr spitzten viele Zuhörer die Ohren, als bei einem Symposion über die "Religion im öffentlichen Raum" in Wien Ende April ein muslimischer Vertreter das Wort ergriff.

Der Mann war nicht irgendjemand, sondern ein wichtiger Vertreter des Islam in Österreich: Elsayed Elshahed hat Psychologie, Philosophie, Soziologie und Islamwissenschaft studiert, hat sich mit Kirchengeschichte und christlicher Dogmatik auseinandergesetzt, ist Mitglied des Obersten Islamischen Rates in Kairo und der ägyptischen philosophischen Gesellschaft sowie Berater des ägyptischen Ministers für religiöse Angelegenheiten. 2003 wurde er als Direktor der Islamischen Religionspädagogischen Akademie nach Wien geholt - jener Akademie, die demnächst zu einer Hochschule aufgewertet werden soll.

Umso mehr erregte Besorgnis, was in den Ohren vieler Zuhörer hängengeblieben war: Die europäischen Gesellschaften seien "blutleer" geworden, konstatierte Elshahed und sprach von einem Ende des Säkularismus. Statt dessen sollten wieder religiöse Werte die Politik bestimmen. Eine Attacke auf den säkularen Staat? Theokratische Propaganda? Viele meldeten Skepsis an - auch solche, die dem gelehrten Mann nicht gleich unterstellen wollten, er würde einer "Islamisierung" der Republik das Wort reden.

"Bin kein Anti-Säkularist!"

Das Furche-Gespräch nützt Elsayed Elshahed für Klarstellungen. Er sei damals völlig falsch verstanden worden, sagt er heute und legt ein Bekenntnis zum säkularen Staat ab. Er sei kein Anti-Säkularist, sagt er. Im Gegenteil, er wisse die Vorzüge der Säkularisierung sehr zu schätzen. Errungenschaften wie die Religionsfreiheit wären in theokratischen, auf Offenbarung basierenden Gesellschaftssystemen viel schwerer denkbar, sagt er, und folgert: "Ohne den säkularen Staat könnten wir Muslime in Österreich nicht so leben, wie wir es tun."

Was seine säkularisierungskritischen Aussagen betreffe, habe es sich weder um eine Kampfansage noch um eine Forderung gehandelt, sondern um den Versuch einer Prognose. In einem dialektischen Dreischritt erläutert Elshahed seine These. Ausgangspunkt seien die theokratischen Strukturen des Mittelalters, die in der Säkularisierung der Aufklärung überwunden worden seien. Die Gesellschaft befreite sich von der religiösen Bevormundung. Ein historisch wichtiger Vorgang, den Elshahed auch als durchaus positiv bewertet. Allerdings ortet er in dem Prozess der Säkularisierung, den er seit ungefähr 200 Jahren in Gang sieht, auch Probleme. Es sei zu Einseitigkeit und Übertreibungen gekommen, sagt er. Die notwendige Säkularisierung sei in einen "Säkularismus" umgeschlagen - mit zweifelhaftem Fortschritt. Höhepunkte des Inhumanen wie Krieg und Holocaust seien von der säkularen Gesellschaft zumindest nicht verhindert worden, konstatiert Elshahed.

Mit dem Bild der "Blutleere" der heutigen Gesellschaft beschreibt der Akademie-Direktor das Fehlen menschlicher Wärme und Solidarität. Er sieht in Europa eine Tendenz zu Materialismus und Individualismus und einen damit verbundenen Verfall der Familien, der für viele Muslime abschreckend sei. Dieser Befund ist die Grundlage für seine Prognose. In absehbarer Zeit werde die Gesellschaft beginnen, etwas gegen ihre Blutleere zu unternehmen. Dann werde sich die Politik wieder vermehrt an religiösen Werten orientieren. Nach der Säkularisierung als einer Reaktion (Antithese) auf die Theokratie (These) erwartet Elshahed, ganz hegelianischer Dialektiker, die Synthese einer säkularen Gesellschaft, die sich von sich aus wieder religiösen Werten zuwendet.

Zuwendung zur Religion?

Um das Defizit an religiösem Bewusstsein zu lindern, sieht Elshahed alle gesellschaftlichen Institutionen herausgefordert, unter ihnen Schule, Medien, Familien. Was aber genau sind diese "religiösen Werte"? Auch nach mehrmaligem Befragen beharrt der Professor darauf, dass er nicht auf eine Islamisierung der Politik hinaus will, dass er nicht "Religion" sagt und "Islam" meint, sondern dass es ihm tatsächlich um Werte geht, die allen Religionen gemeinsam sind: Muslimen, Juden, Christen, aber auch Buddhisten und Hindus. Denn sosehr jede Religion unverwechselbare und nur ihr eigene Komponenten besitze, sosehr sei es möglich, auch gemeinsame Prinzipien zu formulieren.

Wunschdenken eines Religiösen? Aus Fakten abgeleitete Prognose? Jedenfalls hätte die Idee einer Formulierung gemeinsamer Werte einiges für sich. Will man keine akademische Weltethos-Debatte führen, müsste man darüber konkret in Austausch treten. Der dafür notwendige interreligiöse Gesprächsvorgang wäre mit Sicherheit sehr aufschlussreich. Jedenfalls wäre es spannend zu sehen, auf wie viel Gemeinsames sich die Religionsvertreter - z. B. in Österreich - tatsächlich verständigen könnten.

Für den Islam und die Muslime sieht Elshahed kein Problem, sich in die Vielstimmigkeit des religiösen Pluralismus einzugliedern. "Der Islam ist in sich selbst pluralistisch", sagt er und verweist darauf, dass die Religion des Koran mit ihren vielen Traditionen und Rechtsschulen ganz und gar nicht zentralistisch strukturiert sei. Im Zentrum stehe nicht eine Person, sondern ein Buch - und das müsse ständig interpretiert werden. Das provoziert einen Einwand: Der innere Pluralismus muss ja nicht notwendig mit Respekt vor Andersgläubigen einhergehen. Motto: Alles ist recht - solange es islamisch ist. Aber das lässt der Islamgelehrte nicht gelten. Auch nach außen hin gehöre der Pluralismus zum Islam. Die Existenz nichtislamischer Glaubensgemeinschaften sei nach islamischer Überzeugung kein Missgeschick, sondern der klare Wille Gottes. Die Menschen unterschiedlicher Religionen sollten voneinander lernen und um das Gute wetteifern.

Ob der Islam, wie oft behauptet wird, seine Aufklärung noch vor sich habe? "Aufklärung", sagt Elsayed Elshahed, "muss nicht immer als Kopie der europäischen Aufklärung verstanden werden." Im Islam ortet er eine Aufklärungsdynamik, die schon in einem Hadith grundgelegt sei: Alle 100 Jahre, heißt es dort, werde Gott jemanden senden, der die Religion erneuern solle.

Auch in Bezug auf das Verhältnis von Religion und Politik sei diese Aufklärung in Gang, sagt Elshahed. Einerseits habe der Islam von Anfang an eine klar säkulare Komponente, denn der Prophet Mohammed sei auch Politiker gewesen. In Medina etwa habe er eine Staatsverfassung für das Zusammenleben von Muslimen und Nicht-Muslimen ausgehandelt. Andererseits aber halten heute viele Gelehrte eine Trennung von Religion und Politik auch im Islam für durchaus möglich.

Schließlich leben viele Muslime wie auch Elshahed in nicht-islamischen Ländern. Ob das für das islamische Leben eine grundsätzliche Einschränkung bedeutet? "Nein", sagt Elshahed, "ich lebe in Österreich mein volles muslimisches Leben." Problematisch wäre nur, wenn Muslime gehindert würden, ihren Regeln zu folgen - oder gezwungen, gegen sie zu verstoßen. "Niemand zwingt mich, Wein zu trinken", sagt Elshahed.

Eine engere Verbindung von Religion und Politik hält der Akademie-Direktor dennoch "nicht unbedingt für eine Heimsuchung". Ob ein weltanschaulich neutraler Staat nicht doch die beste Basis für die Religionen und ihre Freiheit wäre? Er bezweifle, dass es einen wirklich neutralen Staat gebe. Und nennt als Beispiel die äußerst zähe Debatte um eine staatliche Anerkennung des Islam in Deutschland.

Manko westlicher Kultur

Säkularisierung und Säkularismus? Politik und Religion? Es könnte sein, dass es hinter der Diskussion der großen Wörter eigentlich um schlichtere Dinge geht. Was Elshahed benennt, ist in den Augen vieler Muslime ein dramatisches Manko der westlichen Kultur: Vereinzelung und Vereinsamung, das Zerbrechen des solidarischen Zusammenhalts. Mangelnde Wärme einer blutleeren Gesellschaft. Vieles spricht dafür, dieser Diskussion nicht mit dem Hinweis auf Radikalismus, Gewalt und Terror auf islamischer Seite auszuweichen. "Vor zwei Wochen", sagt Elsayed Elshahed, "ist mein Bruder gestorben. Seine Töchter sind jetzt meine Töchter. Ich sorge für sie, als wäre ich ihr Vater. Können Sie sich das in Ihrer Gesellschaft vorstellen?"

Der Autor ist Dokumentarfilmer beim ORF-Fernsehen/Religion.

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