Das Phänomen des Fundamentalismus
"Fundamentalismus“ wird zurzeit vor allem mit dem Islamismus identifiziert. Doch dahinter verbirgt sich ein vielfältiges Phänomen vieler Religionen.
"Fundamentalismus“ wird zurzeit vor allem mit dem Islamismus identifiziert. Doch dahinter verbirgt sich ein vielfältiges Phänomen vieler Religionen.
Wenn es heute in Debatten wieder einmal um den Fundamentalismus geht, hat man zumeist bereits eine klare Vorstellung: Entweder man denkt an die islamistischen Selbstmordattentäter, die sich in eine spätantike Zeit zurückbomben wollen, oder aber man hat traditionalistische Gruppierungen christlicher Kirchen vor Augen, die allzu gerne wieder ins finstere Mittelalter zurückkehren wollen. Beide Vorstellungen sind angesichts aktueller Entwicklungen durchaus verständlich, doch werden sie dem komplexen Phänomen "Fundamentalismus“ nicht gerecht.
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Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)
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Zunächst muss klargestellt werden: Der Fundamentalismus ist ein genuin modernes Phänomen. Seine Ursprünge hat diese Haltung im Sonnenstaat Kalifornien, sie feiert - wenn man das so bezeichnen könnte - ziemlich genau ihren 100. Geburtstag. Denn 1909 bis 15 publizierten die kalifornischen Öl-Magnaten Lyman und Milton Stewart 12 Bände über die Grundlagen des christlichen Glaubens, über welche nicht diskutiert werden darf. Jede Wissenschaft, sei es Biologie, Philosophie, Physik etc. müsse, so die Intention der Herausgeber, sich "der absoluten Wahrheit dieser Inhalte christlichen Glaubens beugen und hat sie in keinerlei Hinsicht zu hinterfragen oder zu kritisieren.“
Die Bibel wörtlich genommen
Sie bilden das Fundament der wahren religiösen Lehre und konnten von nichts und niemandem abgeändert oder anders interpretiert werden. Diese Inhalte umfassten Themen wie die Jungfrauengeburt Mariens oder die Wunder Jesu als historische Fakten, die wörtliche Auslegung der Bibel etc.
Die Bücher wurden vielfach gedruckt und US-weit an Prediger und Pastoren gesendet, um die Reinheit des christlichen Glaubens zu sichern. Fundamentalistische Gruppen wuchsen bald darauf in allen Teilen der USA - vor allem jedoch, als Fundamentalisten beim "Scopes-Trial“ im Jahre 1925 im Blickpunkt standen. John Scopes, ein Lehrer in Tennessee, hatte - entgegen dem Gesetz - die Evolutionslehre im Unterricht der Grundschule gelehrt und wurde angeklagt. Obwohl er auch zu einer Geldstrafe von 100 Dollar verurteilt wurde, sah man in den amerikanischen Medien die Argumentationen der Fundamentalisten als "lächerlich“ an. Zwar führte dies zu einem Imageverlust für Fundamentalisten in weiten Teilen der USA, doch formten sich auch immer mehr Gruppierungen, die gerade deren Ansicht teilten.
Die beiden Lager von "modernistischen“ Gruppen und fundamentalistischen Christen wurden immer größer. Wie dem auch sei: In dieser Zeit war der Begriff des "Fundamentalisten“ für die, welche sich damit identifizierten, keinesfalls negativ besetzt, sondern tatsächlich war es schlicht und einfach chic für diese Gruppen, sich als solche zu bezeichnen. Dies änderte sich auch in den nächsten Jahrzehnten nicht …
Doch, warum das alles? Nun, die wissenschaftliche Landschaft damals hat sich nicht nur verändert, sondern geradezu revolutioniert. Auf der einen Seite brachte Darwin mit seiner "Origin of the Species“ das Weltbild vieler religiösen Menschen ins Wanken, auf der anderen bastelten historische Wissenschaftler immer mehr an der Heiligen Schrift herum und wollten diese "historisch“ und "kritisch“ auslegen. Der Fundamentalismus ist gerade eine Ablehnung dieser modernen und sich immer mehr ausdifferenzierenden Welt - pluralistische Gesellschaften, viele Religionen an einem Ort, Wissenschaften, die sich offenbar gegen das Allerheiligste der Religionen stellen, und dann auch noch solche Theorien wie die der Säkularisation von Max Weber.
Von der Moderne abgewandt
Man wandte sich, als die Moderne sich wissenschaftlich zu ihren Höhepunkten entwickelte, einfach von ihr ab. Nun setzten fundamentalistische Gruppierungen darauf, diese Diskussionen nicht nur abzuwiegeln, sondern aktiv dagegen vorzugehen. Dazu benutzten sie auch modernste Medien (Radio- und TV-Prediger wie Paul Rader oder Jerry Falwell) und nicht zuletzt auch bestens inszenierte Großveranstaltungen - "revivals“ genannt. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war diese Form der Religiosität in den USA keinesfalls als etwas Negatives angesehen. Dies war für viele einfach "up to date“.
Der Fundamentalismus trat erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts stärker in den internationalen Blickpunkt. Besonders seit der Schah von Persien bei der islamischen Revolution gestürzt wurde und so islamistische Gruppen immer mehr in den Medien wahrgenommen wurden, wandelte sich der Begriff des "Fundamentalismus“ zu einer allgemeinen Bezeichnung für solch radikaler Gruppierungen. In der Folge konnte man den Ausdruck "Fundamentalisten“ für bestimmte Mitglieder aller Religionen verwenden.
Das Verständnis vom Fundamentalismus wandelte sich zu einer Fremdbezeichnung, die für alle Religionen offen ist. Damit trat auch ein negativer und abwertender Ton bei der Verwendung des Wortes auf: Als Selbstbezeichnung war "Fundamentalismus“ damit nur mehr selten zu finden.
Auch in den USA vermieden immer mehr christliche Gemeinschaften, die sich noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts geradezu stolz als Fundamentalisten bezeichnet hatten, diesen Begriff, obwohl sich in ihren Überzeugungen und ihrer Glaubenslehre nichts verändert hat. Dies ist ein Grund dafür, warum es heute in den USA so schwer ist, eine explizite Zuordnung zwischen konservativ-evangelikalen und fundamentalistischen Gruppen vorzunehmen.
USA: Unreligiöse & Superreligiöse
Die Entwicklung der religiösen Gestaltung der US-Gesellschaft kann, wie das auch schon der Religionssoziologe George Marsden formulierte, mit einem großen Paradoxon interpretiert werden: Die neueste Umfrage des Pew Research Forums vom November 2012 ergab, dass in den USA nur zwei gesellschaftliche Gruppen wachsen. Das sind die Bekenntnislosen, die von 1990 (8 Prozent) im Jahr 2012 schon auf knappe 20 Prozent kommen. Auf der anderen Seite sind die einzigen religiösen Gemeinschaften, die einen Mitgliederzuwachs verbuchen konnten, fundamentalistische bzw. rechts-evangelikale Gruppen, die den Großteil der konservativen Protestanten (19 Prozent) stellen. Alle anderen Religionen verbuchen einen Rückgang ihrer Mitglieder. Das ließe folgenden Schluss zu: Die USA werden immer weniger religiös, doch die Religiösen werden immer radikaler.
Fundamentalisten sind also nicht nur die islamistischen Gruppen oder die schismatische Piusbruderschaft, sondern heute kann man Fundamentalisten in vielen Schattierungen, religiösen Traditionen und in unterschiedlichen sozialen Schichten finden. Eines bleibt: Der Fundamentalismus bietet nach wie vor eine sichernde und deutliche Antwort auf die sich immer stärker ausdifferenzierende Welt, in der man sich gegenüber anderen Kulturen, Religionen etc. positionieren muss - er tut dies in einer Weise, die eine jegliche Diskussion abbricht, eine sichere und unhinterfragbare Antwort bietet. Damit bleibt er durchaus politisch weiterhin relevant.
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