Das Urbild des (Er-)Lebens

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Ist "Seele" nur ein veralteter Begriff, für den die moderne Wissenschaft keine Verwendung mehr hat? Hat die Seele als Urbild des Lebens und Erlebens ausgedient? Psychologie, Hirnforschung und Philosophie handhaben diesen Begriff sehr verschieden. Ihr Umgang damit reicht von strikter Ablehnung bis zur Frage nach dem Wesen und der Unsterblichkeit der Seele. Im Alltag meinen wir mit "Seele" vor allem unsere Empfindungen, unsere Gefühle und Stimmungen sowie die Intensität, mit der wie diese erleben.

Wörtlich übersetzt bedeutet Psychologie "Lehre von der Seele" oder "Seelenkunde". Der Psychiater Daniel Hell bezeichnet die gegenwärtige Psychologie und Psychiatrie jedoch als seelenlose Wissenschaften. Beide definieren sich als angewandte Neurowissenschaft und bemühen sich, ihre Aussagen naturwissenschaftlich zu objektivieren. Tatsächlich spielt der Begriff Seele weder in den Theorien noch in den Forschungsprogrammen der akademischen Psychologie eine erwähnenswerte Rolle.

In ihren Lehrbüchern und Forschungsdokumentationen findet sich kaum etwas zum Begriff Seele. Psychologische Forschung und Lehre blühen und gedeihen auch ohne den Begriff Seele. Die Psychologie versteht sich nicht als Lehre von der Seele, sondern als empirische Wissenschaft vom Erleben und Verhalten. Sie erforscht deren äußere und innere Bedingungen, Ursachen und Wirkungen. Als eigenständiges Fach an den Universitäten etablierte sie sich gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Dabei orientierte sie sich an den Naturwissenschaften und deren Forschungsmethoden. Die Seele im Sinne der Philosophie und Theologie war nie ihr Hauptgegenstand. Sie begann nicht als Lehre von der Seele, sondern als empirische Wissenschaft vom Bewusstsein. Insofern war die an den Universitäten betriebene Psychologie von Anfang an eine Psychologie ohne Seele.

Die Psychologie kann die Seele als Einheitsgrund des geistigen und körperlichen Lebens und Erlebens nicht zu ihrem Forschungsgegenstand machen. Sie ist auch nicht zuständig für die Frage nach dem Wesen und der Unsterblichkeit der Seele. Seele meint etwas Letztes, nicht auf anderes Zurückführbares. Seele steht für die Lebendigkeit, Einmaligkeit, Individualität und Unverwechselbarkeit des Menschen. Seele ist das, was der Körper eines Toten nicht mehr besitzt. Wilhelm Wundt, der Gründungsvater der empirisch-experimentellen Psychologie, deutete das Erleben und Verhalten des Menschen als Ausdruck des Lebendigen, als Wirkung und Erscheinungsform der Seele. Demnach eröffnen uns die bewussten Erfahrungen einen Zugang zum Seelischen. Die Seele selbst entzieht sich jedoch ganz unserer sinnlichen Anschauung. Wenn man Erleben und Verhalten als Erscheinungsformen des Seelischen deutet, dann kann man sagen, dass sich die Psychologie sehr wohl mit seelischen Phänomenen befasst, auch wenn sie den Begriff Seele nicht verwendet.

Die Seele in der Hirnforschung

Sind seelische Vorgänge letztlich nichts anderes als Gehirnprozesse, oder umfasst der Begriff "Seele" mehr als das, was Hirnforscher untersuchen können? Es fehlt nicht an Bemühungen, den Sitz der Seele im Körper zu verorten. Bereits in der Antike gab es zwei gegensätzliche Auffassungen über den Sitz der Seele, die sich bis heute im allgemeinen Bewusstsein als Gegensatz von Kopf und Bauch, von Herz und Hirn erhalten haben. Der Neurobiologe Gerhard Roth betont in seinem Buch "Wie das Gehirn die Seele macht" (2014), dass die Suche nach dem Sitz der Seele inzwischen erfolgreich zu einem Abschluss gekommen ist. Es könne keinen Zweifel daran geben, dass das Gehirn das Seelische hervorbringt. Aktivitäten der Hirnzellen gehen geistigen Aktivitäten voraus, und nicht umgekehrt. Neurowissenschaftler sagen uns seit Langem, dass alles, was wir empfinden, denken, fühlen, wollen, glauben und tun, von einem funktionierenden Gehirn in einem intakten Organismus abhängt. Alle psychischen und geistigen Veränderungen gehen mit Veränderungen der Gehirnaktivität einher. Schädigungen des Gehirngewebes haben massive Auswirkungen auf unser Erleben, Verhalten und Handeln. Ohne funktionierendes Gehirn erleben wir nichts. Die Grundthese der modernen Hirnforschung lautet: Das Gehirn erzeugt das Bewusstsein, und der Hirntod ist auch der Tod des Bewusstseins.

Der Begriff Seele ist für die Psychologie und die Hirnforschung zu umfassend. Als experimentell orientierte Wissenschaften können sie nur Teilaspekte des menschlichen Erlebens, Verhaltens und Handelns als Erscheinungsformen des Seelischen untersuchen. Hirnforscher suchen nach der neuronalen Grundlage seelischer Phänomene wie Bewusstsein, Emotionen, Wahrnehmungen, Erinnerungen und willentliche Handlungssteuerung. Weiterhin unbeantwortet bleibt die Frage, wie objektiv beschreibbare elektrochemische Vorgänge im Gehirn den Reichtum unseres bewussten Erlebens erzeugen. Die "Sprache des Gehirns" ist bei allen Erlebnissen stets die gleiche. Wie führen Hirnprozesse zu so unterschiedlichen Erlebnissen wie Empfinden, Sehen, Hören, Fühlen, Erinnern, Riechen und Schmecken?

Wissenschaftlich lässt sich die Existenz einer Seele nicht beweisen. Seele ist kein Gegenstand, den man von außen beobachten und erforschen kann. Sie ist weder sichtbar noch körperlich fassbar, und sie entzieht sich einer eindeutigen Bestimmung in Raum und Zeit. Deshalb ist das Gehirn auch nicht der Ort, das Organ oder der Macher der Seele.

Die Seele in der Philosophie

Die neuzeitliche "Leib-Seele-Debatte" beginnt mit dem Philosophen René Descartes und seiner strikten Trennung von Geist und Körper, von Innenwelt und Außenwelt. Er spaltete den Menschen in ein denkendes Wesen einerseits und eine mechanische Gliedermaschine andererseits auf. Von der Seele als Quelle der Lebendigkeit und als Einheitsgrund aller organischen und geistigen Vorgänge sah er ab. Damit setzte er das Bewusstsein an die Stelle der Seele, und die körperlich-seelische Einheit des Erlebens geriet aus dem Blickfeld.

In der derzeitigen Leib-Seele-Debatte wird der Begriff Seele so gut wie nicht verwendet und durch die Begriffe "Geist" und "Bewusstsein" ersetzt. Die vorhandenen dualistischen und monistischen Deutungen des Körper-Geist-Verhältnisses reichen von Modellen, die voraussetzen, dass das bewusste Erleben sich mit den gängigen Methoden der Neurowissenschaften und der Psychologie erklären lässt, bis zur Position, dass wir das Verhältnis von Körper und Geist niemals wirklich verstehen werden. Materialisten sind davon überzeugt, dass sich Geist und Bewusstsein letztlich naturwissenschaftlich erklären lassen. Wenn wir einmal genau wissen, wie das Gehirn Informationen verarbeitet, dann haben wir das Leib-Seele-Problem gelöst.

Was das Leib-Seele-Problem jedoch so verzwickt macht, ist die Schwierigkeit, der Subjektivität und Privatheit des Erlebens gerecht zu werden. Erlebniszustände besitzen für jede Person eine ganz spezifische Erlebnisqualität. Nur die erlebende Person selbst kann sagen, was sie im Moment fühlt, was sie erlebt und wie sie es erlebt. Neurowissenschaftler können die materielle Grundlage der Erlebnisse erforschen, jedoch nicht die Erlebnisse selbst. Sogar ein noch so vollständiges Wissen über sämtliche Vorgänge im Gehirn einer Person würde uns nichts darüber verraten, wie es für die betreffende Person ist, sie selbst zu sein.

Das Leib-Seele-Problem berührt den Begriff Seele überhaupt. Eine Abkehr vom Begriff Seele fand bereits bei René Descartes statt. In der gegenwärtigen Diskussion entspricht seinem Dualismus von Körper und Geist ein Dualismus von Gehirn und Bewusstsein. Die kausale Beziehung vom Gehirn zum Bewusstsein und vom Bewusstsein zum Gehirn bleibt weiterhin rätselhaft.

Die Auseinandersetzung mit dem Thema "Seele" fordert dazu auf, den Menschen in seiner Lebendigkeit, seiner Ganzheit, seiner Einmaligkeit und seiner Ahnung von etwas Übernatürlichem oder Göttlichem nicht aus dem Blick zu verlieren. Seele ist ein Grenzbegriff, der andeutet, was den Menschen im Grunde ausmacht.

Der Autor ist Jesuit und em. Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Innsbruck

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