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Posthum entdeckt

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„Ehre und bewundere den Wal, o Mensch, und nimm ihn dir zum Vorbild! Bleib auch du warm mitten im Eise! Lebe auch du in dieser Welt und sei ihr doch nicht Untertan! Erhalte dir am Pol dein strömend warmes Blut und am Äquator deinen kühlen Kopf! Bewahre, wie Sankt Peters mächtige Kuppel und wie der große Wal, in allem Wechsel der Zeit dein eigenes unwandelbares Klima!“

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„Ehre und bewundere den Wal, o Mensch, und nimm ihn dir zum Vorbild! Bleib auch du warm mitten im Eise! Lebe auch du in dieser Welt und sei ihr doch nicht Untertan! Erhalte dir am Pol dein strömend warmes Blut und am Äquator deinen kühlen Kopf! Bewahre, wie Sankt Peters mächtige Kuppel und wie der große Wal, in allem Wechsel der Zeit dein eigenes unwandelbares Klima!“

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Diese Sätze stehen im 68. Kapitel von Hermann Melvilles Monsterroman „Moby Dick oder Der Wal“, der 1851 in New York erschien und erst rund hundert Jahre später, im und nach dem zweiten Weltkrieg allgemeine Anerkennung fand — etwa gleichzeitig mit den ebenfalls neu entdeckten Romanen von Joyce, Kafka, Musil und mit diesen zu den Ahnherrn der modernen Literatur erklärt wurde. Am längsten war der Amerikaner Hermann Melville (geboren am 1. August 1819 in New York und daselbst gestorben am 28. September 1891) verkannt worden; nach dem Mißerfolg des „Moby Dick“ schwieg er dreißig Jahre lang verbittert. Erst als Siebzigjähriger, knapp vor seinem Tod, kämpfte er sich wieder zu einem Werk durch, zu „Billy Budd“. Dieses erschien erst 1924, 33 Jahre nach seinem Tod, als die Melville-Renaissance einsetzte. Hatten vorher sogar manche amerikanische Literaturgeschichten nicht einmal seinen Namen erwähnt, begann nun allmählich eine Sekundärliteratur über ihn in allen Kultursprachen anzuschwellen und hat noch nicht ihren Höhepunkt erreicht. Das eingangs erwähnte „Moby-Dick“-Zitat hat biblische Wucht, und auch sonst wimmelt es in dem Riesenwerk von Anspielungen an die Bibel, welche für die profunde Kenntnis des Autors für das „Buch der Bücher“ zeugen. Nicht umsonst hat er, aus angesehenem Offiziersgeschlecht stammend, eine gute religiöse Erziehung genossen. Freilich kann man seine ungeheuer zwiespältige Persönlichkeit ebenso dem Heiden- wie dem Christentum zuzählen. Das Heidentum lernte der blutjunge Mann gründlich am eigenen Leib kennen, als er vier Jahre lang, 1841 bis 1844, auf verschiedenen Seglern und Walfangschiffen in der Südsee herumzigeunerte, teils der Not gehorchend — seine früh verwitwete Mutter war mit einer Kinderschar mittellos zurückgeblieben —, teils dem eigenen Abenteuertriebe.

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„Ich zolle allen Preis und allen Ruhm dem Walfang, denn ein Walfangschiff war meine Universität“, sagt er im 24.Kapitel, und kurz vorher im 23. als weiteres Bekenntnis: „...und wieder sucht das Schiff die Heimatlosigkeit der sturmgepeitschten See, sie ist sein einziger Freund und sein bitterster Feind!“ Kein Zweifel, Melville war vom Meer besessen, ein Gesegneter und Verfluchter, der verstoßene Luzifer, und er hat sich selbst zur Hauptgestalt in „Moby Dick“ erhöht, zu dem unheimlich-dämonischen Kapitän Ahab. Ahab: ein biblischer Name, König von Israel im 9. Jahrhundert v. Chr. — hier, in Melvilles Roman, jener düstere, rachedürstende Kapitän, der in den 40 Jahren, da er alle sieben Meere des Erdballs durchpflügt hat, keine drei Jahre auf dem Lande verweilte; Ahab, mit nur einem Bein enervierend auf Deck Tag und Nacht herumstelzend. Moby Dick, der weiße Riesenwal, hat ihm das Bein geraubt, und er hat nur einen einzigen Lebenszweck: Moby Dick aufzustöbern, ihn zu erlegen und zu verwerten. Jahrelang verfolgt er ihn, auf nahezu 1000 Seiten wird diese tollkühne Abenteurerfahrt gestaltet, und endlich findet er seinen Todfeind, und das Buch schließt auf den letzten 100 Seiten mit diesem teuflischen Kampf zwischen Mensch und dem größten Tier der Welt. Aber nicht der Mensch, der Wal bleibt Sieger. Er reißt das Schiff samt seiner ganzen Besatzung

in den Meeresgrund. Die Elemente triumphieren über den Menschen. Ein einziger überlebt, der Matrose Ismael (wieder ein biblischer Name), stellvertretend für Melville selbst, und dieser erzählt alles in Ichform, was dem Ganzen die erschütternde Echtheit und Lebensnähe verleiht Nichts für schwache Nerven, ein durch und durch männliches Buch, in dem keine einzige Frau vorkommt; nichts für weibliche Leser, die ja vielfach den Erfolg bestimmen. Aber auch für ein männliches Publikum ist das Buch schwierig, dostojewskisch tief lotend, in einer bald primitiv-naturalistischen, bald lyrisch-rhapsodischen Sprache. Im mehrere hundert Seiten umfassenden Mittelteil liefert es eine geradezu naturwissenschaftliche Phänomenologie des Wals. Denn Melville war nicht nur Praktiker, sondern auch Theoretiker, er hat jahrelang ganze Bibliotheken über den Wal studiert

Dieses Allzuvielwissen beeinträchtigt den künstlerischen Wert des Buches. Unwillkürlich erinnert man sich des Goethewortes über seine Iphigenie. Goethe bekannte, daß ihm die Iphigenie, das Jugendwerk, deshalb so poetisch gelungien sei, weil er von Griechenland damals mehr Ahnung als jenes spätere Wissen im Alter hatte, das der Poesie schadet. Und man denkt auch an Flauberts Salambö, darin die Gelehrsamkeit überwuchert, ungleich der reinkünstlerischen Bovary; übrigens stellte Flaubert, ebenso wie Melville, das Meer an die Spitze der schönsten Dinge der Schöpfung.

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Daß die moderne Literatur Melville erst so richtig entdeckt hat, wird auf

seine Gestaltung des archaischen Mythos zurückgeführt, auf seine dem Elementaren unterliegende Urangst, auf die gegenseitige Durchdringung von gut und böse im Menschen bis zur Verzweiflung. „Ahab verkörpert die Apokalypse unserer Zivilisation“, sagt D. H. Lawrence, der Autor der „Lady Chatterley“. Zu den Neuentdeckern Melvilles gehört auch Gtono, der anläßlich seines 50. Todestages das Buch „Pour saluer Melville“ 1941 veröffentlichte (deutsch 1946 unter dem Titel „Melville zum Gruß“). Und Thomas Mann zählte „Billy Budd“ zu den schönsten Erzählungen der Weltliteratur. Da konnte auch

der Film nicht fehlen: Gregory Peck stellte den Kapitän Ahab dar. War „Moby Dick“ im Grunde nihilistisch, so ist „Billy Budd“, das Alters- und letzte Werk Melvilles, von christlicher Erlösung verklärt. Der schöne Matrose Billy Budd, ein frisches, naives Naturkind, sühnt seine von seinem Gegenspieler, dem Intellektuellen Claggart, provozierte Untat in versöhnlich-demütiger Ergebung. Von dem anerzogenen Christentum seiner Kindheit scheint so Melville über den magischen Primitivismus seiner Jünglingszeit, der ihn bei den Kannibalen so beeindruckte — „sie sind viel weniger wild als die weiße Schiffsbesatzung, deren Brutalität nicht zu überbieten ist“ —j zum Heil des Christentums zurückgekehrt zu sein. Nachzutragen bleibt, daß er mit seinen ersten idyllischen Südseeerzählungen — „Typee“ (1845), „Omoo“ (1847) und „Mardi“ (1849) großen Publikumserfolg in Amerika und England hatte, weil man ihn fälschlich in die Nachfolge des beliebten „Lederstrumpf'-Coopers stellte, den ja auch Goethe und Stifter anerkannten.

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