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Helmut Dubiels Buch über Parkinson - und sein Leben

mit dieser unheilbaren Krankheit.

Schon gehört vom Hirnschrittmacher? "Bei der Tiefenhirnstimulation werden über kleine Bohrlöcher im Schädel elektrische Sonden ins Tiefenhirn eingeführt. Diese Sonden werden über einen Impulsgeber gesteuert, eine Art Hirnschrittmacher, der unter dem Schlüsselbein eingepflanzt wird." Die Operation dauert 10 Stunden, während derer der Kopf des nicht narkotisierten Patienten in einen eisernen Ring gepresst wird. Parkinson-Kranke erfahren durch das Gerät eine Linderung ihrer Haltungs-und Gehstörungen; ihre überschießenden Bewegungen und die Fluktuationen der Befindlichkeit werden positiv beeinflusst. Sie müssen nicht mehr 30 Pillen pro Tag schlucken, was einer medizinisch verordneten Drogensucht gleichkommt.

Statistisch bekommen je 16 von 10.000 Menschen Parkinson. Der deutsche Professor für Soziologie Helmut Dubiel erhielt mit 46 Jahren die Diagnose "Parkinson". Jetzt ist er 60 und beschreibt in seinem Buch "Tief im Hirn" zunächst sachlich, was diese bis heute nicht heilbare Krankheit ist: Eine Entgleisung des Alterungsprozesses. Das Buch gewinnt seine bestürzende Wirkung aber nicht aus der gut verständlichen Darstellung der Symptome, sondern aus den Erkenntnissen, die dieser Mann mit kühlem Soziologenblick aus seiner Erfahrung destilliert. Was passiert mit jemandem, dessen inneres Bild von sich selbst nicht mehr mit seinem Ausdrucksverhalten übereinstimmt? Der seine Gesichtsmuskulatur nicht mehr beherrschen kann, der zu stottern beginnt, dem gewisse Wörter zu Angstungetümen werden? Dubiel versucht zunächst, die Krankheit vor sich selbst zu verbergen, erlebt arge Demütigungen im Hörsaal, seine Partnerin verlässt ihn, sein kleiner Sohn reagiert mit Unverständnis. Ihm dämmert, dass er für sein Leiden selbst verantwortlich gemacht wird: "Wir alle kennen an uns die Neigung, in der Konfrontation mit einem Freund, der schwer erkrankt ist, diesen insgeheim selbst dafür zur Rechenschaft zu ziehen." Dieser absurden ihm zugemuteten Selbstverantwortlichkeit stellt er seine Erfahrungen mit der Schulmedizin, insbesondere in Rehabilitations-Kliniken gegenüber: Dort herrsche Erstarrung, Routine, überhaupt kein Eingehen auf den einzelnen Menschen. Heftig geißelt er falsche Erwartungen an die Medizin, die uns glauben macht, geschenkte Jahre seien auch gute und erfolgreiche Jahre: "Die moderne Medizin wird uns bei der Suche nach dem verlorenen Glück nicht helfen können."

Erschütternd wird das Buch, wenn der Soziologe berichtet, wie ihn ein anderer Kranker zu einem "Selbstmord-Pakt" überreden will. Und nicht minder erschreckt seine Beobachtung distanzloser, opferbereiter Ehefrauen, die in sprachloser Verbitterung an der Krankheit des Mannes zerbrechen, statt ein eigenständiges Leben zu führen. Schließlich sein Aufschrei: "Ich will leben!" Von den Nebenwirkungen der Medikamente zermürbt, lässt er sich einen Hirnschrittmacher einpflanzen. Das Ergebnis ist so, als hätte man die Pest mit der Cholera austreiben wollen. Und doch: "Hätte ich die Wahl zwischen dem Leben in Körper und Bewusstsein einer anderen (gesunden) Person und der Fortsetzung meines Lebens in mir selbst, ich würde keine Sekunde zögern, mich für mich selbst zu entscheiden."

"Not lehrt beten", sagt ein altes Sprichwort. Dubiel betet nicht, er denkt. Sehnsucht nach Erlösung, Aufgeben ist seine Sache nicht. Für alle, die nicht an Gott glauben (können), ist dieses Buch ein möglicher Wegweiser zum Kämpfen, so lang die Kraft reicht. In seiner schonungslosen Offenheit, die in Spannung steht zum unterkühlten Stil, seiner Informationsfülle und Erkenntnis-Tiefe dürfte diese Lektüre auch den so genannten Gesunden nachhaltige Denkanstöße liefern.

Tief im Hirn

Von Helmut Dubiel

Verlag Antje Kunstmann, München, 2006. 142 Seiten, geb., e 15,40

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