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Bild einer Jugend

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Mitunter empfand ich in meinem Zimmer im Hotel .Hotel de Suede' Sehnsucht nach den in Rumänien zurückgelassenen Manuskripten“ notierte der 1986 verstorbene große rumänische Religionsphilosoph und Schriftsteller Mircea Eliade im September 1957 in seinem Tagebuch. „Ich saß dann Stunde um Stunde mit halbgeschlossenen Augen da und versuchte, sie mir ins Gedächtnis zu rufen. Ich sagte mir: Alles, was ich an Wertvollerem geleistet habe, ist begraben.“ Verschiedentlich bemühte sich Eliade in der Folgezeit, diese verlorenen Texte aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren, zunächst in seinen „Erinnerungen“ und danach im Gespräch mit Claude-Henri Rocquet („Die Prüfungen des Labyrinths“). Die Originale aber galten als verloren.

1968 machte Eliade die Bekanntschaft eines Rumänen, der für die Erschließung seiner Vergangenheit entscheidend werden sollte: Mircea Handoca. Eliade erteilte ihm im Dezember 1981 den Auftrag, sein rumänisches Archiv zusammenzustellen. In Zusammenarbeit mit dem kürzlich verstorbenen Kulturphilosophen Constantin Noica (1908 bis 1987) machte sich Handoca auf die Suche. Im Hause von Eliades Schwester, Corina Alexandrescu, wurden sie fündig: sie fanden drei große Kisten, vollgestopft mit einigen tausend Seiten aus den Jahren 1920 bis 1928, Tagebuchaufzeichnungen aus der Schulzeit, von der großen Indienreise (1929 bis 1931) und ein druckfertiges Manuskript: den „Roman des kurzsichtigen Jungen“. Dieser Roman, den Eliade in den Jahren 1921 bis 1925 niederschrieb, sollte das Bekenntnis seiner Generation werden, nicht nur eine Autobiographie, sondern, wie er selbst meinte, ein „exemplarisches Dokument jugendlicher Entwicklung“.

Der Text, wie er in der jetzigen Form als Ergänzungsband zur Bukarester Literaturzeitschrift „Manuscriptum“ vorliegt, gliedert sich in drei Teile, die je einer Entwicklungsphase des Erzählers entsprechen: die frühen Jahre im Gymnasium füllen den ersten Teil. Der zweite beginnt mit der Beschreibung der berühmten Mansarde, die bereits ihren Platz in der Weltliteratur gefunden hat: Eliades Studierstube, das Gefühl von Freiheit, Bücher, der Blick auf zwei Pappeln.

Es folgt die Beschreibung der Kulturgesellschaft „Die Muse“, die Eliade mit seinen Klassenkameraden aus der Taufe hob, mit einem anspruchsvollen Programm. Man veranstaltete Vorträge, Konzerte und Theateraufführungen. Gespielt wurde der „Don Juan“ des rumänischen Dramatikers Victor Eftimiu (1889 bis 1972), ein heutzutage nahezu vergessenes Stück, das sich aber vorzüglich eignete, den anwesenden Mädchen Eindruck zu machen.

Die Sache hatte nur einen Haken: der Don Juan, Robert (Jean-Victor Vojen), unterlag in Charme und Auftritt dem Leporello-Castagnete Dinu Sighireanu, der seinen gelungenen Auftritt mit einer ersten Liebeserfahrung hinter der Bühne abrundete. Dies führte zum Zusammenbruch der Kulturgesellscha'ft, deren Exekutivkomitee das frischgebackene Liebespaar aus ihren Rängen ausschloß. Die Theaterleidenschaft war damit aber noch nicht gebrochen.

Als nächstes wurde die Revue „Ein Mustergymnasium“ in Angriff genommen. Da von Szene zu Szene, von Couplet zu Couplet immer wieder ein anderer Lehrer verspottet wurde und jeder erst über den anderen lachen durfte, bevor er selber an die Reihe kam, wurde das Stück ein voller Erfolg.

Diese Höhepunkte des Bukarester Gymnasiastenlebens machen unvermutet tiefe Krisen Platz: Melancholie überfällt den Ich-Erzähler, wenn er vor dem Fenster ein Dienstmädchen singen hört oder jemand um die Ecke eine traurige Weise auf dem Klavier anstimmt. Die schulischen Demütigungen halten an: Nachprüfungen und stures Büffeln bei sommerlicher Hitze in der Mansarde.

Den zweiten Teil beschließt ein Kapitel über die „colinde“, das traditionelle rumänische Sternsingen zu Weihnachten: eine Gruppe junger Burschen zieht am Weihnachtsabend durch die Straßen und bittet um Einlaß in die Häuser. Die Sternsinger werden, je nach Großzügigkeit des Hausherrn, mit Äpfeln, Feigen, Mandarinen und einem Taschengeld belohnt. Wer die Sternsinger nicht empfängt, wird mit Verwünschungen überschüttet.

Der dritte Teil ließe sich mit dem Titel „Krisen“ überschreiben: er schildert die Entdeckung der Sexualität, erste Erfahrungen in einem Vorstadtbordell, Einsamkeit, Selbstmordgedanken und die erschütternde Bekanntschaft mit Giovanni Papinis Buch „Ein erledigter Mensch“. Die Freude darüber, einen Freund gefunden zu haben, wird vergällt durch die Wut, nur ein Abbild eines anderen zu sein. Die Auseinandersetzung mit literarischen Vorbildern — Giovanni Papini und Ionel Teodoreanu (1897 bis 1951) - gipfelt in dem Willen, etwas anderes zu werden, etwas anderes zu schreiben.

Eine neue Generation kündigt sich an, die aus den Schemen des alten Rumäniens und der Imitation französischer Modelle ausbrechen und etwas Neues schaffen will. Übrig bleiben die Erinnerungen an das Schulleben, das Gymnasium „Spiru Haret“, Kameraden und Freunde.

Der „Roman des kurzsichtigen Jungen“ ist eine der drei Quellen, die es uns, neben seinen „Erinnerungen 1907 bis 1937“ und der „Prüfung des Labyrinths“, erlauben, die Jugend Mircea Eliades zu rekonstruieren. Während jedoch die Memoiren und die Gespräche mit Claude-Henri Rocquet aus der Distanz von mehr als vierzig Jahren die Jugend Eliades heraufbeschwören, führt uns der „Roman eines kurzsichtigen Jungen“ unmittelbar in die Welt des Gymnasiasten Mircea Eliade, seine Art, zu empfinden und zu denken.

Wir werden uns der ungeheuren Willensstärke bewußt, die diesen jungen Mann aus der kleinen Welt von Bukarest nach Indien, London, Lissabon, Paris und Chicago geführt hat: „Es ist bekannt“, sagt Eliade, „daß unser ganzes literarisches Schaffen auf der Sehnsucht nach der Kindheit und Jugend beruht. Hier liegen die Wurzeln unserer schöpferischen Kraft.“ Der „Roman des kurzsichtigen Jungen“ ist eines der wenigen Dokumente, die uns in die Lage versetzen, zu den Quellen der schöpferischen Kraft Mircea Eliades vorzustoßen.

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