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Die Wahlgewalt

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Das Thema der innerparteilichen Demokratie, an dem der SPÖ-Par-teitag souverän vorbeiging, könnte den Parteitag der ÖVP in weit stärkerem Maße beschäftigen — nicht nur als logische Konsequenz jeder Personaldebatte (und die Personaldebatte ist in der großen Oppositionspartei nun einmal unter nicht besonders schönen Begleitumständen aufgebrochen), sondern auch deshalb, weil die ÖVP als erste österreichische Partei mit einer der wichtigsten Komponenten innerparteilicher Demokratie, den Vorwahlen, zu experimentieren begann.

Unter den gegebenen Umständen wäre ein Zurückschalten auf diesem Weg nicht nur schwer vorstellbar, sondern auch strategisch äußerst unklug, weil die Mitwirkung des Wählers an der Kandidatenauslese in den nächsten Natiomalratswahlen eines der wichtigsten Argumente darstellen könnte, sich für diese Partei zu entscheiden. Und mit solchen Argumenten ist die ÖVP gegenwärtig bekanntlich nicht gerade gesegnet. Voraussetzung wäre allerdings, daß man konsequent auf dem in Oberösterreich eingeschlagenen Weg wei'terschreitet.

„Vorwahlen in Österreich“ heißt denn auch einer der brisantesten Beiträge im ersten Vierteljahresheft der „österreichischen Zeitschrift für Politikwissenschaft“, das dem Thema „Parteien und Demokratie“ gewidmet ist. Er stammt von Helmut Kukacfca (Linz) und zieht aus einer Analyse der oberösterreichischen Vorwahl-Erfahrungen jene Schlüsse, die sich auch notorisch theoriefeindliche Parteihonoratioren nicht vorenthalten sollten. Um so mehr, als die Arbeit durchaus auch zu Schlüssen gelangt, welche solche Honoratioren bestätigen — vorausgesetzt, die Honoratioren sind auch Autoritäten.

Eine Analyse der Wahlergebnisse in jenen 44 von insgesamt 419 oberösterreichischen Gemeinden, die einerseits den ausgesandten Fragebogen beantwortet (hier wiederum nicht weniger als 419 von 445 Gemeinden oder 94 Prozent), anderseits aber keine Vorwahlen durchgeführt hatten, ergibt nämlich das interessante Phänomen, daß unter diesen „Nicht-Vorwahlgemeinden“ einerseits ein besonders hoher Prozentsatz von Gemeinden mit besonders gutem, anderseits aber auch ein besonders hoher Prozentsatz von Gemeinden mit besonders schlechtem ÖVP-Abschneiden vorhanden war.

Im ersteren Fall hatten sich Vorwahlen erübrigt, weil der Spitzenkandidat unbestritten und die innerparteilichen persönlichen Beziehungen entsprechend waren — in diesen Gemeinden gewann die ÖVP Stimmen, obwohl sie keine Vorwahl durchgeführt hatte. Hingegen verlor sie Stimmen in jenen Gemeinden, die deshalb keine Vorwahlen durch-ge|ührt hatten, weil die dortigen Spitzenfunktionäre einen Machtverlust befürchten mußten und deshalb die Probe aufs Exempel scheuten.

Man kann dies sieher, cum grano salis, auf die Situation der Gesamtparteien übertragen und sagen, daß der unangefochtene- Spitzenkandidat der Regierungspartei das Problem der innerparteilichen Demokratisierung entschärft, während eine eventuelle Angst vor der Stimme des ParteiiFußvolkes der ÖVP nur schaden, der Mut zur konsequenten Demokratisierung hingegen nur nützen könnte.

In der BRD wurde ermittelt, daß nur 0,12 bis 0,15 Prozent der Wahlberechtigten über die personelle Zusammensetzung der Parlamente bestimmen — in Österreich, so Kukacka, wäre diese Zahl nur geringfügig höher.

In den USA, wo keine einheitliche Wahlgesetzgebung existiert, gibt es sowohl offene als auch geschlossene „Priimaries“: Im ersten Fall können sich alle Wahlberechtigten, im zweiten nur die Mitglieder und eingetragenen Sympathisanten der betreffenden Partei beteiligen. In der Bundesrepublik wurden bereits 1968 offene Vorwahlen vorgeschlagen, aber mit Bekanntgabe der Partei, an deren Vorwahl der Wahlberechtigte teilnehmen will (er kann sich nach diesem Vorschlag aber auch für die Vorwahl der parteilosen Kandidaten entscheiden). Melden sich weniger als 13 Prozent aller Wahlberechtigten zur Vorwahl an, soll sie unterbleiben.

In Oberösterreich entschied sich die örtliche Volksparteiorganisation in 49,6 der Gemeinden für offene, in 48,8 Prozent für geschlossene, nur für Parteimitglieder und Sympathisanten (Mitglieder etwa des christlichen Lehrervereines, des Akademikerbundes und anderer „Vorfeldorganisationen“) zugängliche Vorwahlen. Dabei erwiesen sich offene Vorwahlen als um so attraktiver, je kleiner die Gemeinde war. Ab einer Einwohnerzahl von 2000 überwogen die Gemeinden mit geschlossenen Vorwahlen, in der Gruppe der 17 Gemeinden mit mehr als 7500 Einwohnern fanden offene Vorwahlen überhaupt nicht statt.

Die Wahlbeteiligung war bei der offenen Vorwahl größer — das heißt gleichzeitig „in kleinen, überschaubaren Gemeinden mit persönlichen und familiären Kontakten (face to face groups) und der dadurch bedingten dörflichen Normenstruktur und ihren Sanktionsmöglichkeiten“. Eine Wahlbeteiligung von 80 bis 100 Prozent wurde in 77 Prozent aller Gemeinden mit offener, aber nur in 54 Prozent aller Gemeinden mit geschlossener Vorwahl erreicht. Aber auch hier sank die Wahlbeteiligung nur in neun Prozent der Gemeinden unter 40 Prozent. In den großen Gemeinden dürfte die Vorwahlwahlbeteiligung die organisatorische Fähigkeit der betreffenden Ortspartei spiegeln.

Vorwahlen steigern das Ablösungspotential der Spitzenkandidaten: In 77 Prozent der Vorwahlgemeinden, aber nur in knapp 60 Prozent der Nichtvorwahlgemeinden verzichteten Gemeindemandatare, die knapp vor dem 60. Lebensjahr standen, auf neue Kandidatur, während die Bereitschaft zu einem Wechsel der Spitzenkandidaten in Vorwahlgemeinden um 20 Prozent größer war. Auch das Durchschnittsalter der Kandidaten war in den Vorwahlgemeinden signifikant niedriger.

Die politische Repräsentierung der Frauen allerdings wurde auch durch die Vorwahlen nicht erhöht — sie ist und bleibt in Oberösterreich „erschreckend gering“. In 78 Prozent aller Gemeinden gab es überhaupt keinen weiblichen wählbaren ÖVP-Gemeinderatskandidaten.

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