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Liebelei — anderswo

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Schon nach wenigen Augenblicken war es zu spüren, daß dem Gastspiel des Wiener Burgtheaters in Belgien mit Schnitzlers „Liebelei“ ein voller Erfolg zuteil werden sollte. Obwohl das Publikum bei der Premiere im Königlichen Flämischen Theater in Brüssel am Anfang Schwierigkeiten hatte, die österreichische Färbung der Sprache zu verstehen, fühlte es sich so lebhaft in das Geschehen, aber auch in Stil und Charakter der Aufführung ein, daß die Sprachbarriere kaum noch eine Rolle spielte. Der Beifall am Schluß der Vorstellung steigerte sich zu Jubel.

Daß das Stück etwas verwelkt, das Duell für die heutige Zeit kaum begreifbar ist, verhehlten die Zuschauer im Gespräch nicht. Ebenso klar aber erkannte man die Beziehung zu Freud, zur Psychoanalyse, ja sogar zu Ionesco suchte man Bezüge herzustellen, indem man dessen Determinismus mit dem Schnitzlers verglich. Man verstand das alterslose Problem des Vorwurfs, seine innere Dimension.

Das Regiekonzept Klingenbergs — Entsentimentalisierung — wurde nicht nur vom Publikum, sondern von fast allen führenden Kritikern Belgiens gutgeheißen. Man begriff sein Theater als ein Instrument des Humanismus, auch als antipodisches Element zu Brecht.

Tiefsten Eindruck hinterließen die schauspielerischen Leistungen. Der Kritiker von „Le Soir“ verglich die Akteure des Burgtheaters mit denen der Comedie Franchise, ganz allgemein rühmte man die Echtheit ihrer Kunst. „Diese Schauspieler“, urteilte

der Kritiker des „Soir“, „spielen nicht, sie leben auf der Szene. Sie sind mit ihren Rollen verwachsen“. Fast wienerisch klingt es, wenn die belgische Kritik von den Hörbigers spricht, denen man nicht genug dafür danken könne, daß sie die Strapazen eines Gastspiels auf sich genommen haben. Neben der ergreifenden Schlichtheit Attila Hörbigers und seiner souveränen Größe gefiel vor allem Maresa Hörbiger. Sie sei, so schrieb „La Derniere Heure“, „feinfühlig im Ausdruck, hingebungsvoll und doch auch wiederum reserviert, wenn sie von ihrer Liebe ganz erfüllt wird, tragisch und ergreifend in dem Augenblick, wo sich ihr die Wahrheit enthüllt“. Besonderen Beifall erntete Michael Heitau: „Hut ab vor diesem Schauspieler“ — schreibt kurz und bündig „De Nieuwe Gids“. Wolfgang Hübsch, Sylvia Lukan („Une libertine gracieuse“), Ida Kattendorf und Paul Hoffmann, der wegen Verpflichtungen in Wien für die Spieltage in Antwerpen von Erich Auer abgelöst wurde, werden als phantasievolle Schauspieler gewürdigt, die durch ihre Sprachkunst und ihr Melos eine echt wienerische Atmosphäre zu schaffen vermögen.

Die französisch schreibenden und die flämischen Kritiker sind selten einer Meinung. Im Falle des Wiener Gastspiels waren sie es. Es gibt nicht einen, der es nicht als ein glanzvolles und höchst bedeutsames Ereignis, als ein seltenens Beispiel der unbedingten Hingabe an das Werk eines Dichters, gefeiert und gewürdigt hätte.

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